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Nominierte 2013

Inge Hannemann Die sture Sachbearbeiterin

Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann leistet Widerstand gegen die Missstände bei der Umsetzung von Hartz IV.

Inge Hannemann, Dissidentin in der Arbeitsagentur: „Mein persönliches Risiko liegt im Promillebereich.“ Bild: Anja Weber

Seit Inge Hannemann nicht mehr arbeitet, hat sie zu tun: Um sechs Uhr morgens steht die 45-Jährige auf – sie sei halt eine Frühaufsteherin, kommentiert sie lachend – und überfliegt noch vor der Dusche ihre E-Mails. Spätestens um acht Uhr erwarten ihre Facebook-Freunde eine Begrüßung und Artikel zur Arbeitsmarktpolitik, die sie verlinkt und kommentiert. Seit der Freistellung gelangen viele E-Mails zu ihr – zu ihr, der Hartz-IV-Rebellin, der Symbolfigur des Widerstand aus dem System heraus, der aufsässigen und sturen Sachbearbeiterin des Jobcenters im Hamburger Bezirk Altona.

Hier betreute sie seit 2006 „schwer vermittelbare“ Jugendliche, davor arbeitete sie in einem baden-württembergischen Jobcenter, noch früher als Speditionskauffrau, Dozentin in der Erwachsenenbildung und Fachjournalistin. Freigestellt ist sie, seit im April ihre Kritik am System Hartz IV allzu laut wurde. „Weil ich zum Beispiel behaupte, dass die 1-Euro-Jobs Ausbeuterjobs sind“, konkretisiert Inge Hannemann. Kritik, die sie nie verheimlichte, die sie aber auch nicht zurücknehmen wollte, als sie vom Arbeitgeber dazu aufgefordert wurde. Und nicht zuletzt Kritik, zu der sie schriftliche Belege habe.

Unterdessen arbeitet sie zu Hause, an einem kleinen Tisch, der die Küche vom Essbereich trennt. Zumindest bis klar ist, wie es weitergeht. Nach einer ersten Anhörung Anfang Juni folgt nun am 30. Juli die zweite. Hannemann will am 31. Juli wieder in ihrem Büro sitzen. Die Zweifel, die zu ihrer Freistellung führten, kamen im Sommer 2006, erinnert sich die zierliche, viel jünger wirkende Frau, als die Reformen von Hartz IV verschärft wurden. Sie stieß sich an den Sanktionen, die intern als „erzieherische Maßnahmen“ deklariert wurden, und an dem gegenseitigen Misstrauen, das die Beratungsgespräche seither dominierte.

Das Misstrauen der Jobcenter entwürdigt die Menschen

Vergeblich suchte sie das Gespräch mit ihren Vorgesetzten, einzig bei den Kollegen habe es einige gegeben, die ähnlich dachten. Doch der Tenor war ernüchternd: „Was können wir schon ändern?“ Keine befriedigende Antwort, sagte Hannemann für sich und begann – stets im Rahmen des Rechtmäßigen, wie sie streng sagt –, vorhandene Spielräume zu nutzen. Anders als viele ihrer Arbeitskollegen sanktionierte sie fehlbare „Kunden“ nur, wenn es nicht anders ging, verschob Termine und besuchte ihre Schützlinge zu Hause, um nach den Gründen ihrer Abwesenheit zu suchen. 

Erstgespräche deklarierte sie systematisch als „Kennenlerngespräche“, um den Hilfeholenden die Angst zu nehmen; setzte sich mit ihnen bewusst an einen extra Tisch,um in die Augen der Menschen statt in ihren PC zu blicken. Man glaubt Inge Hannemann sofort, wenn sie sagt, „ihre Erwerbslosen“ hätten ihre spontane, unbürokratische Art geschätzt. Ihre ganz persönliche Erfahrung ist: Das Misstrauen, das vom Jobcenter ausgeht, entwürdigt die Menschen, diskriminiert die sowieso schon Schwachen. Und: Misstrauen ist in den wenigsten Fällen angezeigt.

„Natürlich gibt es Leistungsmissbrauch“, meint Hannemann, auch sie hatte schon solche Fälle erlebt, „doch sie sind sehr selten.“ Wichtiger als die Zahlen sind ihr ohnehin die Menschen, eigentlich auch ein Grundsatz der Jobcenter: „Wir arbeiten nicht für Zahlen, sondern für Menschen.“ Dieser Satz hat sich bei Hannemann eingebrannt, sie erwähnt ihn immer wieder und rückt sich dabei die kantige Brille zurecht. Andere Sätze, etwa die Regelungen zu den Sanktionen, habe sie einfach nicht gespeichert, erzählt sie mit schelmischem Trotz in der Stimme.

Die Arbeit, für die sie jetzt freigestellt wurde und die sie gerne wieder ab August aufnehmen möchte, hat sie gut gemacht, Arbeitszeugnisse belegen das. Sie wurden bei den nachfolgenden Vorgesetzten irrelevant, als Hannemann zu bloggen begann. Im April 2011 fing die Arbeitsvermittlerin an, nach Feierabend harmlose Beiträge über Hartz IV und Arbeitsrecht, aber auch über persönliche Vorlieben zu schreiben. Ein Jahr später startete sie „altonabloggt“, ein offen kritisches Blog zu Hartz IV und den Missständen in den Jobcentern – natürlich steht im Impressum deutlich ihr Name.

Arbeitsvermittlung auf Augenhöhe

Im Februar 2013 veröffentlichte sie dort einen Brandbrief an die Bundesagentur für Arbeit, indem sie die Besonderheit ihrer Position als interne Kritikerin nutzte, um entschieden auf ein Ende der Sanktionspraxis von Hartz IV hinzuwirken. Ihr Ziel ist die Wiedereinrichtung eines nicht antastbaren Existenzminimums und die Rückkehr zu einer Arbeitsvermittlung auf Augenhöhe. Ihr Engagement ist die logische Fortführung ihres bisherigen Lebens: „Ich bin keine Märtyrerin, ich bin einfach damit aufgewachsen, dass wir Demokratie und einen Rechtsstaat haben, wofür es sich zu kämpfen lohnt.“

Aus ihrer Sicht blieb ihr also gar nichts anderes übrig, als sich öffentlich hinzustellen und von den Zweifeln ihrer Arbeit zu erzählen. Zwar rebellierten 2006 in einem Jobcenter in Köln schon einmal fünf Mitarbeiter, doch Inge Hannemann ist die erste, die öffentlich so krass und mit Namen aufgetreten ist. Einen regelmäßigen Feierabend kennt Hannemann in diesen unruhigen Zeiten nicht. Natürlich habe sie sich mehrfach überlegt, einen anderen Job zu suchen, sagt sie nachdenklich und legt die Brille ab.

Sie seufzt nicht, aber kurz wirkt sie müde und zerbrechlich. „Doch es gab immer diese Ambivalenz: Einerseits war ich mit dem System nicht einverstanden, andererseits mag ich den Job einfach.“ Sie setzt die Brille wieder auf. Da ist er wieder, ihr Kampfgeist: „Denn wenn ich versuche, gut zu arbeiten, im Sinne der Menschen, dann kann ich zumindest für meine – in Anführungszeichen – ‚Kunden‘ etwas bewirken.“ Seit sie nicht mehr aus ihrem Büro heraus helfen kann, organisiert sie die Hilfe anders: Zusammen mit anderen hat sie kurzerhand eine Facebook-Akuthilfe gegründet. 

Seither gehen sie und andere einmal im Monat mit einer Familie unbürokratisch einkaufen. Stellt sich mit ihr an der Kasse an und bezahlt. Die aufsässige Sachbearbeiterin, die vielmehr eine kluge Strategin ist, weiß genau, was sie tut. Sie ist selbstbewusst genug zu glauben, dass sie nichts zu verlieren hat, dass sie irgendwo schon unterkommen wird: „Im Verhältnis zu der Willkür, die ich gesehen habe, liegt mein Risiko im Promillebereich.“

Überrascht ist sie von der Solidaritätswelle, die sie seit diesem Februar erreicht. In ihrem Unterstützerteam sind gut 20 Menschen, mit denen sie täglich in Kontakt steht. Mit Professoren habe sie da zu tun, viel mit der Partei der Linken. Instrumentalisieren lässt sie sich gleichwohl nicht, denn selber politisieren möchte sie nicht. „Machtkämpfe mag ich nicht“, winkt sie ab, besser gefällt ihr die Rolle der Ungehorsamen. Sie weiß aber auch: „Nur die Politik kann etwas ändern. Ich alleine nicht.“

Gina Bucher