Inge Hannemann über Jobcenter und Sex: „Das ist wie Spionage“
Das Jobcenter Stade fragt eine Schwangere, mit wem sie geschlafen habe. Ex-Jobcenter-Mitarbeiterin Hannemann hält den intimen Fragebogen für unzulässig
taz: Frau Hannemann, was geht ein Jobcenter das Sexleben seiner Kunden an?
Inge Hannemann: Ganz kurz gesagt: gar nichts. Der Mitarbeiter im Jobcenter Stade (siehe Kasten) ist mit seinem Fragebogen weit über das Ziel hinaus geschossen. Die Frage nach dem Vater des ungeborenen Kindes geht, wenn überhaupt, das Jugendamt etwas an.
Dem Jobcenter Stade zufolge hatte der Mitarbeiter einer Schwangeren die Fragen zu ihren Sexualpartnern wegen möglicher Unterhaltsleistungen gestellt.
Das Jobcenter übernimmt aber gar keinen Unterhalt. Das macht das Jugendamt mit dem sogenannten Unterhaltsvorschuss, und der wird vom Jobcenter sogar auf die Leistungen als Einkommen angerechnet. Ob man Unterhaltsvorschuss bekommt, dürfen die Mitarbeiter auch fragen, aber nicht, mit wem man Sex hatte. Die Persönlichkeitsrechte der Antragsteller müssen geschützt werden.
Ein Mitarbeiter des Jobcenters Stade hat einer schwangeren Hartz-IV-Empfängerin ein Formular gegeben, in dem sie nach ihren Sex-Partnern befragt wurde.
Im Wortlaut heißt es: „Während der gesetzlichen Empfängniszeit habe ich mit folgenden Männern Geschlechtsverkehr gehabt“. Und weiter: „Zur Ermittlung des Kindsvaters habe ich folgende intensive Nachforschungen angestellt.“
Die Frau wehrte sich gegen den Fragebogen mit einem Anwalt.
Mittlerweile hat das Jobcenter Stade das Formular zurückgezogen und sich bei der Frau entschuldigt. Der Mitarbeiter habe das Papier „selbst entworfen“. Personalrechtliche Konsequenzen würden geprüft.
Auf den Fragebogen war das Logo des Jobcenters gedruckt. Es schien also, als sei es ein offizielles Dokument. Wenige würden das hinterfragen, oder?
Ja, weil so ein Formular schon einschüchtert. Wenn Sie so etwas zugeschickt bekommen, gehen die Betroffenen davon aus, dass das eine reguläre Anfrage ist. Man weiß ja, dass das Jobcenter häufig merkwürdige Fragen stellt.
Inwiefern?
Wann ist Ihr Kind beim Vater? Oder wie oft ist Ihr Kind nicht bei Ihnen im Haushalt? Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn private Fragen kommen. Sie sind erlaubt. Es erschreckt die Leute nicht mehr.
Welche Fragen gehen nicht?
Zum Beispiel die Frage, wann man sich wo befunden hat. Die muss man nicht beantworten. Das erfragt das Jobcenter, um die Ortsabwesenheit zu überprüfen. Hartz-IV-Empfänger dürfen nur an einer bestimmten Anzahl an Tagen abwesend sein. Absolut unzulässig ist auch, wenn Mitarbeiter Facebook-Einträge benutzen. Ich habe von Fällen gehört, in denen sich die Mitarbeiter Kommentare von den Profilen der Erwerbslosen ausdrucken, wenn die zum Beispiel über das Jobcenter herziehen oder sich ungerecht behandelt fühlen. Das ist wie Spionage.
Nutzen Jobcenter-Mitarbeiter häufig das Machtgefälle zwischen sich und den Kunden aus?
Ich möchte nicht pauschalisieren. Es gibt viele empathische Mitarbeiter, die sich sehr viel Mühe geben. Aber es gibt auch Mitarbeiter, die dieses Machtgefälle austesten und gucken, wie weit sie gehen können. Zumindest, wenn sie wissen, dass sich die Leute nicht wehren. Tritt jemand hingegen „querulantisch“ auf, so wird das intern genannt, wird der häufig in Ruhe gelassen. Wenn die Mitarbeiter wissen, dass jemand einen Anwalt hat, wollen sie sich oft lieber nicht mit ihm anlegen.
Also sollten Hartz-IV-Empfänger mit dem Anwalt drohen?
Drohen klingt zu bedrohlich. Aber sie sollten selbstbewusst auftreten und immer mit Beistand in ein Jobcenter gehen, nie alleine. Es ist wirklich auffällig: Die Mitarbeiter sind dann plötzlich viel freundlicher.
Weil es Zeugen gibt?
Das flößt Respekt ein. Und der Beistand darf auch Protokoll führen.
Wo bekommen Betroffene Unterstützung?
Zum Beispiel bei der Linken. Wir bieten eine Hartz-IV-Beratung an. Aber auch die Diakonie und Erwerbsloseninitiativen bieten Hilfe, genau wie Erwerbslosenforen im Netz, wie etwa der Verein Tacheles.
Welche Folgen sollte der Fragebogen für den Mitarbeiter aus Stade haben?
Zumindest eine Abmahnung. Ein einfaches Personalgespräch ist nicht ausreichend, weil er seine Kompetenz bei weitem überschritten hat.
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