Individuelle Freiheit mit „Commons“: „Die Allmende ist nicht kostenlos“
Warum es irrational ist, 540 Seiten auszudrucken und in der U-Bahn zu lesen, erklärt die Autorin und Commons-Aktivistin Silke Helfrich.
taz: Frau Helfrich, Ihr Buch zu Commons erscheint nicht nur gedruckt, sondern auch im Internet. Warum soll ich es für 24,80 Euro kaufen, wenn ich es umsonst runterladen kann?
Silke Helfrich: Weil es irrational ist, 540 Seiten ausdrucken und als Loseblattsammlung in der U-Bahn zu lesen. Wir wollen Menschen nicht zum Kauf nötigen. Es gibt viele gute Gründe, ein Buch zu kaufen, auch wenn es im Netz steht. Viele werden das mit öffentlichen und privaten Mitteln entstandene Werk refinanzieren. Unseren Autoren war es wichtig, dass wir die Gedanken, die sie uns geschenkt haben, auch weiterverschenken.
Gerade im Bereich Wissenschaft und Kunst ist die Allmende-Idee umstritten. Untergräbt sie die Existenz von Urhebern?
Nein! Wir nutzen auch das Urheberrecht, nur anders. In dieser Debatte geraten die einfachsten Kategorien durcheinander. Rechteverwerter und Politiker beschwören das Ende der Menschenrechte herauf – doch bei der Wissensallmende oder open source geht es gar nicht darum, dass alles kostenlos ist. Es geht darum, dass wir vielfältige Formen der kulturellen Produktion brauchen. Nicht nur eine, die über den Markt organisiert ist und sich am bisherigen Urheberrecht festkrallt.
Commons bedeutet, dass Ressourcen von einem begrenzten Nutzerkreis nach selbst ausgehandelten Regeln genutzt werden. Commoning, Commons und Allmende werden synonym gebraucht. Bekannt geworden ist die Idee durch die Arbeit der US-Politologin Elinor Ostrom, die dafür 2009 den Wirtschafts-Nobelpreis erhielt.
An diesem Wochenende erscheint von Silke Helfrich/Böll-Stiftung (Hg.): „Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat.“ Über 90 Autoren beschreiben Perspektiven der Allmende im Transcript-Verlag.
Silke Helfrich arbeitet zu Allmenden. Sie betreibt das Blog www.commonsblog.de. Von 1999 bis 2007 hat sie das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko-Stadt geleitet.
Wovon wollen Ihre Autoren leben?
Unsere Autoren wollen, dass ihre Texte frei lizenziert werden. Mit Copyleft statt mit Copyright. Warum sollten sie das nicht tun dürfen? Sie verdienen an dem Buch ohnehin kein Geld, sondern Reputation bei Lesern. Sollen sie!, fand auch unser Verlag und der muss am Markt bestehen. Es geht darum, dass, was aus der Allmende geschöpft wurde, auch an die Allmende zurückzugeben ist. Commons sind kein Bereich für Freibeuter, sondern ein geschützter Bereich, der nach bestimmten Regeln funktioniert.
Und zwar welchen?
There is no commons without commoning, sagt der Historiker Peter Linebaugh, einer unserer Autoren. Das Verb commoning besagt, es kommt darauf an, dass wir etwas tun. Lokale Ressourcen – wie Wasser, Land, Fischbestände, Geld, Wohnraum – müssen von den Nutzern selbst verwaltet werden. Sie brauchen Freiräume, müssen an Problemlösungen beteiligt sein. Erst das führt zu einer hohen Akzeptanz von Regeln und Normen. Sie beruht auf Prinzipien wie Selbstorganisation, Transparenz oder Fehlerfreundlichkeit. Das wichtigste Prinzip aller Allmenden ist: Es gibt keine einzige, außenstehende Ordnungsinstanz, wie etwa „den Staat“.
Im Buch beschreiben Sie ein Projekt aus Costa Rica, das Bauern und freie Software-Entwickler zusammenbringt. Es werden Initiativen vorgestellt, die ins Abseits getriebene Berggemeinden in Japan revitalisieren, und es geht darum, die Commons-Idee ins europäische Wettbewerbsrecht einzubringen. Lässt sich das alles sinnvoll unter den Begriff des „Commoning“ bringen?
Die Initiativen und Bewegungen weltweit, die der Idee individueller Freiheit in Gemeinschaft verpflichtet sind, lassen sich über den Begriff der Commons fassen. So wie sich in den 60er und 70er Jahren die Umweltkämpfe über den Begriff der Nachhaltigkeit bündeln ließen. Diese Bündelung ist wichtig, denn wir können nur tun, was wir denken können und wofür wir Begriffe haben. Unsere Begriffe werden unsere Wirklichkeit prägen.
Ist die Allmende-Idee in einem Industriestaat wie Deutschland anschlussfähig?
Natürlich! Die Allmende des 21. Jahrhunderts ist ja nicht die des 16. Jahrhunderts. Wir erleben gerade eine technologische Entwicklung, die es möglich macht, die Techniken der Moderne als Allmende zu organisieren. Zum Beispiel können wir unseren Strom selber produzieren.
Welche Rolle spielt der Staat?
Da gibt es zwei Linien im Buch: Die einen interpretieren den von Elenor Ostrom geprägten Slogan „Commons jenseits von Markt und Staat“; die anderen meinen, dass der Staat in einer Commons-basierten Gesellschaft eine andere Rolle haben muss. Zum Beispiel überlappen sich Ressourcensysteme, es wird immer Konflikte zwischen verschiedenen Allmenden geben. Darum braucht es einen neutralen Konfliktlöser. Außerdem brauchen wir Institutionen, die uns Freiräume sichern, um die Commons ausprobieren zu dürfen. Hier hat der Staat eine wichtige Funktion. Zumindest könnte er sie haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?