Individualismus zelebrieren : Progressive Linke sind Liberale
Es sind die Ideen einzelner Punk-Individuen, die gesellschaftlichen Wandel hervorbringen, meint unser Autor. Wer progressiv denkt, muss den Liberalismus mögen.
Von KONSTANTIN PEVELING
taz lab, 04.03.2023 | Wie der Geschmack von Orangensaft nach dem Zähneputzen. So empfinden Linke liberale Ideen. Der Staub des vorgestrigen Liberalismus wird besser gemieden. Oder?
Gerald A. Cohen, einer der wichtigsten marxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, übernahm ganz offen Ideen von Friedrich A. von Hayek, einem österreichischen Ökonomen und wichtigen Denker des Liberalismus.
Auch das Gesellschaftsbild des Neo-Marxisten Antonio Gramsci ist dem von Hayek extrem ähnlich. Beide meinen, dass es Ideen sind, die gesellschaftlichen Wandel hervorbringen. Anders als sonst gerne im linken Spektrum geglaubt, sind es eben nicht historische Umstände und Kollektive, die gesellschaftlichen Fortschritt initiieren, sondern Punk-Individuen, die aus den Kollektiven und Umständen ausbrechen.
Konstantin Peveling, Jahrgang 1996, promoviert in Politischer Ökonomie am King’s College in London und ist taz lab-Redakteur. In seiner Wohnung hängt ein Bild von Friedrich A. Hayek.
Foto: Anke Phoebe Peters
Die Vorreiter:innen des Feminismus und der Emanzipation zum Beispiel hinterfragten überholte Ordnungen, sie glaubten an eine fortschrittliche, bessere Welt. Sie machten mutig ihre Ideen groß, bis sich ihnen keiner mehr widersetzen konnte und sie das Bestehende überwunden hatten.
Die Macht der Ideen jedes Einzelnen
Der Kerngedanke des Liberalismus liegt im Widerstand gegen Autoritäten und Nostalgie und in der Freude an der Einzigartigkeit jeder Person. Die Fokussierung auf Kollektive und Klassen versperrt Linken den Blick auf die Ursachen gesellschaftlichen Fortschritts.
Der von Gramsci wie Hayek beschworenen Macht der Ideen liegt der Individualismus zugrunde. Anders als beim Glauben an vermeintlich unausweichliche Entwicklungen ist Fortschritt auf ihre Macher:innen angewiesen.
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Individualismus nicht nur auszuhalten, sondern insbesondere dann zu zelebrieren und zu unterstützen, wenn einem die Lebensform der anderen zuwider scheint, ist möglicherweise herausfordernd für Linke. Wer es jedoch mit der Progressivität ernst meint, sollte das Individuum lieben – auch wenn das bedeutet, zum Liberalen zu werden.
Unsere Autor*innen schreiben hier wöchentlich über Zukunft und Zuversicht.