Indigene in Norwegen: Wo Walfang zur Kultur gehört
Die norwegischen Sami verlangen eigene Fangquoten. Walschützer*innen kritisieren das. Aber den Indigenen geht es um Grundsätzliches.
Hier hat sich ein neuer Interessent gemeldet. Das norwegische Sami-Parlament Sametinget hat einstimmig beschlossen, auch für dieses indigene Volk Fangquoten für die Jagd auf Delfine und Schweinswale vor der nordnorwegischen Küste zu fordern.
Die weltweit führende gemeinnützige Wal- und Delfinschutzorganisation WDC wies den Vorstoß „entschieden“ zurück. Eine Genehmigung solcher Jagd wäre „völlig unverantwortlich“, meint die WDC-Forschungsleiterin Nicola Hodgins. Dagegen sprächen nicht nur tier- und artenschutzrechtliche Gründe, sondern auch gesundheitliche Erwägungen: „Das Fleisch und Fett der meisten Delfinarten – insbesondere in arktischen Gewässern – ist stark mit Giftstoffen wie Quecksilber belastet.“ Der Konsum solcher Tierprodukte könne „eine Reihe schwerwiegender Erkrankungen verursachen“. Hodgins rief das Sami-Parlament auf, seinen Antrag wieder zurückzuziehen.
„Wir wissen, dass das ein strittiges Thema ist“, sagt Silje Karine Muotka, Mitglied des Sametingsrådet – das ist das Gremium, das die laufende politische Arbeit des Sametinget führt. „Und wir sind darauf vorbereitet, dass wir uns mit internationaler Kritik auseinandersetzen werden müssen.“
Samische Kultur weiterführen
Allerdings würden die Kritiker*innen übersehen, dass der Fang von Delfinen und Kleinwalen einen „wichtigen Teil der samischen und norwegischen Kultur darstellt, die wir bewahren und weiterführen wollen“. Muotka gesteht aber zu, dass noch eine „umfassende Untersuchungsarbeit“ zu leisten sei. Dabei wollten die Verfechter*innen der Quoten eng mit den Forschungsinstitutionen zusammenarbeiten.
Über den Antrag des Sami-Parlaments wird Oslo zu entscheiden haben. Bislang war von der norwegischen Regierung noch keine Stellungnahme zu erhalten. Allerdings genehmigt sie ihren eigenen Fischer*innen jährlich hohe Fangquoten für Zwergwale, für 2018 waren es beispielsweise 1.278 Tiere. Deshalb kann sie den Antrag nicht ohne Weiteres ablehnen. Es sei denn, Kritiker*innen könnten ausreichend artenschutzrechtliche Bedenken vorbringen.
Silje Karine Muotka, Mitglied des Sametingsrådet
Der Gewöhnliche Schweinswal“ (Phocoena phocoena) heißt in Norwegen „Nise“, weil er ein dem Niesen ähnliches Geräusch produziert, wenn er zum Atmen an die Oberfläche kommt. Er gehört in Norwegen zu den geschützten Arten, eine Jagd ist nicht zulässig.
Nach jüngster Einschätzung des norwegischen Meeresforschungsinstituts sind die Nise zwar in der Nordsee mit mehreren hunderttausend Exemplaren weit verbreitet, jährlich ersticken jedoch bis zu 3.000 als Beifang in den Netzen norwegischer Fischer*innen. Zuverlässige Zahlen über den Bestand vor der nordnorwegischen Küste gibt es nicht – auf dieses Gebiet bezieht sich der Antrag des Sami-Parlaments.
Damit fehle es „ganz einfach an wissenschaftlichen Voraussetzungen, die die Forderung rechtfertigen könnten“, meint der Marinebiologe Fredrik Myhre von der norwegischen Sektion der Umweltorganisation WWF. Es gebe zu wenige Erkenntnisse, wie die verschiedenen Arten sich gegenseitig und ihre Lebensräume beeinflussen. Das Vorsichtigkeitsprinzip verbiete es, auf so unsicherer Basis die Jagd auf eine neue Art zuzulassen.
Das vergessene Volk
Aber warum wollen die Sami plötzlich überhaupt Schweinswale und Delfine jagen? Zunächst muss man wissen, dass es nicht um den weit überwiegenden Teil der Sami geht, die vor allem Rentierzucht betreibt. Es handelt sich vielmehr um die Sjøsami, die Küstensami. Das ist eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe, deren Siedlungsgebiet sich auf rund ein Dutzend Orte an der nordnorwegischen Meeres- und Fjordküste beschränkt und die hauptsächlich von Fischfang und der Nutztierhaltung lebt.
In Norwegen werden die Sjøsami auch das „vergessene Volk“ genannt. Sie waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts besonders stark der Norwegisierungspolitik ausgesetzt, mit der die Zentralmacht versuchte, die samische Sprache und Kultur auszulöschen. Und schließlich legte die Politik der „verbrannten Erde“, die die Nazi-Wehrmacht bei ihrem Rückzug aus Norwegen am Ende des Zweiten Weltkriegs praktizierte, alle Siedlungen in Schutt und Asche und beraubte die Menschen jahrelang ihrer angestammten Heimat und Lebensart.
Nach und nach gingen den lange vom Tauschhandel lebenden Küstensami auch ihre Existenzgrundlagen verloren: Das Recht auf küstennahen Walfang, den sie jahrhundertelang betrieben hatten, wurde ihnen schon Anfang des letzten Jahrhunderts genommen. Bei der Verteilung der Fischfangquoten in den 1980er und 90er Jahren wurden sie benachteiligt. Und als das norwegische Parlament den Rentiersami mit einem Finnmarkgesetz einen Teil ihrer traditionellen Rechte verbriefte, gingen die Küstensami leer aus.
Eine junge Generation kämpft nun seit einigen Jahren für die Bewahrung ihrer Sprache und Kultur sowie für eine tragfähige wirtschaftliche Grundlage, um diese lang anhaltende negative Bevölkerungsentwicklung zu stoppen. Dazu gehört eben vor allem die Sicherung von Fisch- und Walfangrechten.
Norwegen soll seine Minderheiten schützen
Bei ihren Forderungen können sie sich dabei auch auf Menschenrechtsinstitutionen wie Norges nasjonale institusjon for menneskerettigheter stützen. Diese verlangt unter dem Hinweis auf die UN-Antirassismuskonvention, dass Oslo den Küstensami eine „positive Sonderbehandlung“ zukommen lässt: Auf der Basis ihrer althergebrachten Rechte müssten ihnen erweiterte Fischereirechte als Teil ihrer Kulturausübung gesetzlich garantiert und sie müssten bei der Verteilung der Fischfangquoten bevorzugt behandelt werden. Auch verschiedene Jurist*innen werfen dem norwegischen Staat vor, seine völker- und menschenrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz von Minderheiten bei den Küstensami zu vernachlässigen.
Allerdings fordern die Sami derzeit gar nicht spezielle Rechte für sich selbst, sondern allgemein für die küstensamischen Siedlungsgebiete unabhängig von der Ethnizität. Deswegen dürfte es ihnen zumindest auf absehbare Zeit weniger darum gehen, tatsächlich Schweinswale und Delfine zu jagen, als vielmehr ums Prinzip: das grundsätzliche Recht auf Nutzung der marinen Ressourcen und eine gerechtere Verteilung der Fangquoten für Kabeljau, Hering, Königskrabbe und andere Arten, um die es ständig Konflikte gibt.
Man wolle nur die Naturressourcen „ernten“, die man direkt vor der Haustür habe, betont Silje Karine Muotka. Und das auf eine verantwortungsvolle Weise, wie es der Tradition der Sami entspreche: „Das Tierwohl steht für uns immer ganz oben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch