Indiens Kastensystem: Dalits sollen soziale Tabus brechen
Das gesellschaftliche Bild von „Unberührbaren“, Dalits, hat sich trotz Abschaffung des Kastensystems gehalten. Ein Journalist will das ändern.
„Als ich aufgewachsen bin, hat das Kastensystem eine fundamentale Rolle gespielt. Es hat sämtliche Regeln des Lebens bestimmt“, sagt er. Als der Junge etwa durch sein Heimatdorf im nordindischen Uttar Pradesh radelte, stieg er wie selbstverständlich von seinem Rad, bevor er das Reichenviertel passierte. Manche Gegenden betrat Prasad gar nur, nachdem er zuvor seine Schuhe ausgezogen hatte.
Vor über 70 Jahren erlangte Indien seine Unabhängigkeit, und ebenso lange ist das Kastensystem bereits abgeschafft. Obwohl mittlerweile etliche Dalit die gesellschaftliche Leiter hinaufgestiegen seien, hätte sich die mediale Wahrnehmung über die Kastenlosen seither kaum geändert: Seine Community, sagt Prasad, würde stets in der gesellschaftlichen Opferrolle dargestellt – arm, hilflos, primitiv. Niemals jedoch würden Dalit in den Medien als Leistungsträger abgebildet.
Sein im Herbst 2017 gegründetes Magazin The Dalit Enterprise versucht diese Schieflage nun auszugleichen. Angelehnt an Black Enterprise, das 1970 aus der afroamerikanischen Community heraus gegründet wurde, erscheint es jeden Monat in 100 farbigen Seiten, auf denen erfolgreiche Dalit-Unternehmer porträtiert werden. Jene Leute also, die in den landesweiten Medien nicht vorkommen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Finanziert wird die Redaktion mit acht Vollzeitmitarbeitern dank Spendengelder zweier Unternehmerfamilien aus der Parsen-Gemeinde – jener wohlhabenden Minderheit, die im 8. Jahrhundert aus Zentralasien nach Indien emigriert ist. Die gedruckte Auflage spielt nur eine untergeordnete Rolle. Komprimiert auf 20 Megabit wird das Magazin vorrangig als kostenlose PDF-Datei per WhatsApp heruntergeladen und bis in die hintersten Winkel des Landes weitergeleitet.
Die Geburtsstunde für den Aufstieg der Dalit-Unternehmer kam mit den Wirtschaftsreformen der frühen Neunziger, als sich das ehemals sozialistische Indien marktwirtschaftlich öffnete: Viele der Dalits zogen in Folge dessen in die großen Städte, wo sie etwa in Fabriken Arbeit suchten. Folglich waren sie nicht mehr von ihren Landbesitzern abhängig. Ja, mehr noch: Im anonymen urbanen Raum konnten einige von ihnen auch mental die Fessel der Kastenhierarchie ablegen.
Chandra Bhan Prasad ist das beste Beispiel: Sein Vater, der einst für die britische Kolonialregierung arbeitete, konnte es sich als einer von wenigen Dalit leisten, seine Kinder zur Schule schicken. Der älteste Sohn wurde schließlich Polizeioffizier. Prasad konnte gar mithilfe des Quotensystems und hartem Fleiß einen Platz an der prestigeträchtigen Nehru-Universität in Delhi ergattern. Als erster Dalit heuerte er schließlich bei einer landesweiten Tageszeitung an, schrieb wöchentliche Kolumnen und kommentierte das politische Geschehen. Bereits in jungen Jahren hatte er verinnerlicht, stets exzellent sein zu müssen – besser als die anderen. So wurde Prasad schließlich zum Vorbild für seine Community.
Kapitalismus wird das Kastensystem vernichten
Wer ein Exemplar von The Dalit Enterprise aufschlägt, kann jeden Monat den Werdegang von über einem Dutzend role models nachlesen. Die Dezemberausgabe widmet sich etwa Dalit-Unternehmern in der Hotelbranche, zuvor wurden Dalits porträtiert, die Krankenhäuser führen. „Die Leute, über die wir berichten, werden respektiert – weil sie mittlerweile als hohe Kasten gelten. Das ist die Macht des Kapitalismus“, sagt Chandra Bhan Prasad.
Seine These gilt als umstritten. Erstaunlich ist sie allemal, weil sie von einem ehemaligen Maoisten stammt. In seiner Jugend schloss sich Prasad aus Frust gegenüber dem System für drei Jahre lang dem Kampf der Naxaliten an; jenem indischen Ableger des Maoismus, der aufgrund seiner Gewaltbereitschaft für die Zentralregierung in Delhi als größte Bedrohung der inneren Sicherheit gilt. Jahrzehnte später jedoch hält also ausgerechnet ein ehemaliger Kommunist das staatliche Quotensystem für paternalistisch – und glaubt, dass sich die Dalits dank des Kapitalismus befreien können.
„Kapitalismus hat weltweit den Feudalismus vernichtet – und wird letztendlich auch das Kastensystem zerstören. Mir geht es jedoch nicht nur darum, dass Dalit gutes Geld machen, sondern sie sollen auch soziale Tabus brechen. Und der größte Tabubruch für uns ist es, wenn wir unsere eigenen Firmen gründen – und Angehörige höherer Kasten als Arbeiter anstellen“, sagte er.
Mehrheit der Dalits wird diskriminiert
Statistisch gesehen kommt das indische Wirtschaftswachstum von jährlich rund sieben Prozent höchst ungleichmäßig bei der Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen an. Zwar hievt es jährlich Millionen Inder aus der Armut, gleichzeitig jedoch ist die Wohlstandsverteilung noch ungerechter als etwa in China oder den USA. Laut Zahlen des Forschungsinstituts Credit Suisse besitzen die obersten zehn Prozent fast vier Fünftel aller Reichtümer des Landes, während die unteren zwei Drittel der Bevölkerung nur auf 4,7 Prozent Zugriff haben.
Die rund 250 Millionen Dalits genießen zwar ein weltweit einmaliges Quotensystem in Universitäten und staatlichen Betrieben. Das Gros an „Unberührbaren“ ist jedoch weiterhin in Armut und Diskriminierung gefangen. Zudem werden Dalits noch immer häufiger Opfer von Ausschreitungen und körperlicher Gewalt – oftmals aus den trivialsten Gründen.
Im Juni 2018 etwa wurden drei Buben in einem Dorf in der Provinz Maharashtra verprügelt, nackt ausgezogen und im Dorf zur Schau gestellt, nur weil sie in der Quelle eines höheren Kastenmitglieds gebadet hatten. In Gujarat kam es zu Ausschreitungen, nachdem ein 22-jähriger Dalit auf Facebook seinem Profil eine Namensendung gab, die laut hinduistischer Traditionen ausschließlich für höherrangige Kasten reserviert ist.
In Bildung investieren
Es ist bezeichnend, dass der Dalit Prasad ausgerechnet in der scheinbar liberalen, weltoffenen Medienbranche allein auf weiter Flur steht. In den Redaktionen des Landes sind nur wenige Angehörige der niederen Kasten angestellt. Als im Dezember etwa fünf indische Staaten zur Lokalwahl antraten, hat kein einziger Fernsehsender einen Dalit als Kommentator angeheuert.
Wann immer Prasad heutzutage sein Heimatdorf besucht, rät er den Bewohnern: Sie sollen ihr Vieh verkaufen, denn deren Aufzucht benötigt die Mitarbeit ihrer Kinder und hält sie von der Schule fern. Sie sollen nicht in Land investieren, sondern in die Bildung ihrer Söhne und Töchter. Ebenso ist das Erlernen von Englisch wichtig – als kastenneutrale Sprache der Wissenschaft und der globalen Welt. „Wenn wir uns auf Hindi begrüßen, dann beugen wir uns mit unserem Kopf automatisch nach unten und falten die Hände. Ganz anders bei einem good morning, da ist die Körperhaltung schon eine ganz andere.“
Ob seine Mission von The Dalit Enterprise tatsächlich zum gesellschaftlichen Wandel beitragen kann? Chandra Bhan Prasad antwortet schmunzelnd mit einer Anekdote: Vor einigen Wochen sei er einem Steuerbeamten begegnet, der – nach der Lektüre des Magazins – einen fürchterlichen Wutanfall bekam. „Er hat mich als Betrüger bezeichnet – und sagte mir ungläubig: Erfolgreiche Unternehmer in Anzügen – das können doch keine Dalit sein!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei