Indien-Klischees im Wandel der Zeit: An der Grenze des Vorstellbaren
In Bombay ist man vor Durchfallgeschichten, Ausraubgeschichten und Mitleidsgeschichten nie sicher. Die Stadt ist eine der aufregendsten der Welt.
Reisende, die in der nächtlichen Hitze Bombays am internationalen Airport ankommen, schwören sich oft schon, kurz bevor die „Fasten seatbelt“-Zeichen erloschen sind und das Flugzeug die endgültige Parkposition erreicht hat, diesen 18-Millionen-Moloch so schnell wie möglich zu verlassen. In Bombay, oder Mumbai, wie es seit Mitte der 1990er richtig heißt, erkennen sie den Vorhof zur Hölle. Denn wie sonst sollte man die indische Metropole bezeichnen? Eine Stadt, die an einer wunderschönen, weiten Bucht liegt, diese jedoch seit Jahrzehnten gewissenlos verdreckt?
Was ist von einem Flecken Erde zu halten, der eines der berüchtigtsten Rotlichtviertel der Welt beherbergt, aber verbieten möchte, dass Schaufensterpuppen mit Unterwäsche ausgestellt werden – zum Schutze der Frauen vor sexuellen Übergriffen? Die einen eigenen Eintrag in der „Danger and Annoyances“-Liste des Lonely Planets verdient und wo die auf den Straßen operierenden Bettler oft noch keinen Meter hoch sind. Nicht viel, sollte man meinen. Also schnallen sich die Reisenden den Rucksack auf und rollen per Zug oder Bus schnell ins „wahre“ Indien.
Aber halt! Alles, was der Reisende sucht, man kann es auch in Bombay finden, der großartigsten Stadt der Welt. Ein kleines Fischerdorf, uralte Kirchen, eine hellblaue Synagoge, Tempel und eine ins Meer gebaute Moschee, es ist alles da. Sowie das beste und vielfältigste Essen im Land, vom einfachen Pani-Puri-Stand bis zum supermodernen Brauhaus, das mexikanisch angehauchtes Essen serviert.
, Ex-taz-Redakteurin, geboren 1976, wuchs mit ihrer indischen Mutter und ihrem deutschen Vater in Krefeld auf und besucht bis heute regelmäßig die indische Großfamilie in Bombay. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
In ihrem neuen Buch beschreibt Tenberg, wie man aufwächst, wenn die eine Großmutter niederrheinische Kriegswitwe und die andere eine katholische Matriarchin aus Bombay ist. Die Autorin erklärt, an welchen deutsch-indischen Klischees wirklich etwas dran ist und weshalb Inder beim Wort „Chai-Tee“ nur mit dem Kopf schütteln. Während des Schreibens ist sie mehrmals nach Indien geflogen.
Dauernd findet irgendwo eine Lesung, eine Modenschau oder Ausstellungseröffnung statt. Es gibt dunklen, indischen Old-Monk-Rum, französischen Champagner, aber auch eine Polizei, die mal eine hochkarätig besuchte Party hopsnimmt. Angeblich, weil die Gäste sich nicht an ein uraltes, noch zu Kolonialzeiten erlassenes und inzwischen vergessenes Gesetz halten, wonach jeder Konsument eine „Permit“, also eine Genehmigung, bei sich führen muss.
Reich oder weise
Sowieso ist man hier vor Polizeigeschichten, Durchfallgeschichten, Ausraubgeschichten und Mitleidsgeschichten nie sicher, und doch erlebt man nirgendwo intensiver, was es heißt, in diesem Land zu leben. Man sollte vorher versuchen, über Facebook oder Bekannte von Bekannten, Menschen kennenzulernen, die einen mitnehmen zur Hochzeit eines Freundes oder einfach nur zu einem entspannten Tag an der Rennbahn, die es gibt in einer Stadt, in der über die Hälfte der Menschen im Slum lebt.
Schon im neunten Jahrhundert, so stellt Walter Leifer in „Indien und die Deutschen“ fest, prägte Rabanus Maurus dieses zweipolige Image von Indien in Deutschland. Einerseits rief der Mainzer Erzbischof, Dichter und Vorreiter der karolingischen Renaissance ein Bild des mit Gold und Edelsteinen gesegneten Inders hervor, doch ergänzte dies zugleich mit Askese und Weisheit. 1.200 Jahre später gilt dieses Leitmotiv noch immer. Inder sind in hiesiger Wahrnehmung entweder wahnsinnig reich oder wahnsinnig weise, dann aber arm.
Wenn sie keins von beiden sind, können es auch keine echten Inder sein, sondern gelten in unseren Augen als „verwestlicht“. Dass der Franzose Jean-Baptiste Travienier im 17. Jahrhundert von seinen Indienreisen riesige Diamanten mitbrachte, festigte dieses Bild von einem Land voller prächtiger Paläste, in deren Gärten bunte Pfauen umherstolzieren. Heute kann jeder, der möchte, in einem dieser Häuser absteigen, nicht wenige ehemalige Adelsfamilien betreiben in ihrem Besitz Luxushotels.
In ihrem Dunstkreis, aber auch nahe Backpacker-Absteigen, locken Händler Touristen mit dem Versprechen auf Reichtum. Alles was sie tun müssten, ist, ein paar Edelsteine per Post in ihr Heimatland zu schicken. Der Händler könne dadurch so viel an Einfuhrzöllen sparen, dass der Tourist ein paar Wochen sorgenfrei durchs Land reisen könne. Es sei davor gewarnt, bei diesem Arrangement mitzumachen, denn am Ende profitiert nur einer: angebliche Betrüger.
Prunk und Elend
Die Weisheit der Sadhus, also der Mönche und Gelehrten, zieht noch immer diejenigen an, die nach Erleuchtung suchen. Als der Weg über Land noch frei und offen war, lag Indien in den 60ern und 70ern am Ende des Hippie-Trails. Mit Bussen oder auch Moped pilgerten junge Menschen zum Taj Mahal, und ihre Reise endete nicht selten im Rausch am Anjuna Beach. Seitdem das Fliegen erschwinglich geworden ist, kommen die Reisenden mit dem Rucksack über die großen Städte wie Kalkutta, Delhi oder Mumbai ins Land, setzten sich während des kurzen Stop-overs in Yoga-House an der Old Chimbai Road oder ins Café Mondegar nahe dem Taj Mahal Hotel, wo sie am Macbook den Rest ihrer Tour planen.
Dadurch dass die Stadt weder Elend noch Prunk verbirgt, wird sie zur Maximum City wie von Suketu Mehta in „Bombay Lost and Found“ beschrieben. Der Stadtbiograf Naresh Fernandes, Herausgeber der Anthologie „Mumbai – Meri Jaan“ und Autor des Buches „Taj Mahal Foxtrott“, kennt die Gründe, weshalb man sich in Bombay unters Volk mischen sollte. Weil man verwundert zusehen kann, wie die Bewohner mit viel Geschick Not und Elend bekämpfen und trotzdem so tun, als hätten sie eine gute Zeit, zumindest keine richtig schlechte.
Wer seinen Rucksack in Bombay niederlegt, sagt er, kann am Gleis der Churchgate Station sehen, wie 5.000 Menschen sich einen Zug quetschen, der für 1.752 ausgelegt. Sie wissen, dass sie 90 Minuten Fahrt vor sich haben, und sind trotzdem fähig, einem Alten ihren Platz anzubieten. Wer in Bombay bleibt, kann sehen, wie die Menschen an den kleinen Dingen große Freude finden, dem frischen Seewind am Abend oder dem Wiedersehen mit Freunden auf dem Weg zur Arbeit und im Glauben daran, dass das Morgen immer auch einen Neubeginn versprechen könnte.
Spätestens aber, wenn einmal auffällt, dass alles in der Stadt nach dem Marathenkönig Chhatrapati Shivaji benannt wurde, Flughafen, Bahnhof, Straßen, und man diesen Namen auch flüssig aussprechen kann, entlässt einen die Stadt für ein paar Tage an die Strände Goas. Doch dazu braucht man keinen Rucksack, für die kurze Reise reicht eine kleine Reisetasche.
Natalie Tenberg, „Bollywood und Rübenkraut. Geschichten von meiner deutsch-indischen Familie“, Heyne Verlag, München, 224 Seiten, 8,99 Euro.
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