: In vollen Zügen geniessen
■ Da staunt der Quiddje: S-Bahnen wie zu Großmutters Zeiten – eine Reise in die Vergangenheit mit olfaktorischen Sensationen Von Christoph Ruf
Jeder zweite Großstadt-Bewohner benutzt regelmäßig öffentliche Verkehrsmittel. Das ist in Hamburg nicht anders als in München oder Frankfurt. Aber anders als in anderen deutschen Metropolen löst der HVV-Benutzer mit dem konkurrenzlos teuren Fahrschein gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit.
Während andere Städte vollklimatisierte S-Bahn- und U-Bahn-Züge anbieten, mutet Hamburg seinen Fahrgästen historische Waggons aus den vierziger Jahren zu. Diese werden statt mit wohltemperierter Frischluft mit stickigen Heißluftströmen gefüllt. Die heißen Winde entstehen bei jedem Bremsvorgang und werden direkt ins Wageninnere geblasen. So erhöht sich von Haltestelle zu Haltestelle die Temperatur, und wer die zwanzig Stationen von Harburg nach Pinneberg fährt, riskiert den Erstickungstod. „Ein Mißstand, den wir nicht ändern können. Die Modelle der Baureihe 471 stammen aus den Jahren 1939 bis 43, eine Umrüstung wäre schlicht zu teuer“, erklärt Manfred Wächter, Sprecher der Deutschen Bahn AG, welchselbe die S-Bahnen betreibt. „Ende 1996 hoffen wir allerdings, die neuen, modernen S- Bahn-Züge in Dienst stellen zu können.“
Bis dahin bietet sich den Hamburgerinnen und Hamburgern also noch die Möglichkeit, interessante Geruchsstudien am lebenden Objekt zu betreiben. Denn bei Temperaturen um 45 Grad versagt in den zu Stoßzeiten chronisch überfüllten Vehikeln das beste Deodorant. Von süßlich-penetrant bis männlich-säuerlich ist aus dem olfaktorischen Spektrum alles vertreten, was die Geruchsnerven dem Exitus näherbringt. Zumal dann, wenn umgekippte Bierdosen für interessante Akzentuierungen des Abteil-Fluidums sorgen.
Wieviel besser hat es da doch der Ruhrpott-Mensch! Während in Hamburg für die drei Minuten dauernde Fahrt von Blankenese nach Altona 3,90 Mark zu bezahlen sind, fährt der Duisburger oder die Essenerin für lächerliche 2,70 Mark durch das ganze Stadtgebiet. Und das in hochmodernen, vollklimatisierten Straßenbahn-Waggons. Wer will, kann auf der Fahrt an einem der Tische Platz nehmen und sich vom Servicepersonal sein Frühstück servieren lassen.
Ein Angebot, das auch Fahrgäste im Rollstuhl problemlos nutzen können, schließlich verkehren zwischen Düsseldorf und Bochum auch sämtliche U-Bahnen als sogenannte „Niederflur-Modelle“. In Hamburg hingegen ist noch längst nicht jede Haltestelle mit Personenaufzügen ausgestattet, ganz zu schweigen von dem Kraftakt, einen Rollstuhl oder Kinderwagen mindestens 20 Zentimeter hoch in die Abteiltüren zu wuchten.
Doch zumindest was die Werbung anbetrifft, hat sich der HVV auf seine Klientel eingestellt. Wo die um Contenance und Ablenkung ringenden Augen der S-Bahn-FahrerIn auch hinschweifen – überall treffen sie auf Plakate alteingesessener Hamburger Beerdigungsunternehmer („Sind Sie auf den Ernstfall vorbereitet?“).
Demjenigen, der hier an Zufälle glaubt, entgeht wohl auch die subtile Ironie des Slogans „HVV –Wählen Sie den bequemeren Weg“.
(Im Namen der Säzzerin: Werter Christoph, diese wunderbaren alten blauen Waggons sind mit ihren „Traglastenabteilen“ doch die einzig fahrrad- und kinderwagentauglichen Verkehrsmittel in Hamburg!)
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