In der Türkei verhindert die alte Elite den Aufbau einer Zivilgesellschaft. Die EU muss das Land zur Demokratie zwingen: Kandidat mit schlechten Noten
Die Europäische Union hat bei ihrem letzten Gipfeltreffen in Helsinki der Türkei den Kandidatenstatus eingeräumt. Dass das kein Freibrief für eine zukünftige Mitgliedschaft sein kann, ist in der Türkei anscheinend missverstanden worden. Denn trotz wiederholter Versprechen der türkischen Regierung, die Menschenrechtslage im Land zu verbessern, halten die Verstöße gegen elementare demokratische Regeln an. Jahrelang war der Terror der kurdischen PKK Vorwand für den türkischen Staat, die Menschenrechte mit Füßen zu treten und den kurdischen Türken selbstverständliche kulturelle Rechte wie den Unterricht in eigener Sprache zu verweigern. Auch kurdischsprachige Medien durften sich in der Türkei bislang nicht etablieren.
Die jüngste Verhaftungswelle gegen demokratisch gewählte Bürgermeister in mehrheitlich von Kurden bewohnten Städten der Türkei zeigt, dass die politischen Machthaber in der Türkei an ihrer harten Linie gegenüber den für ihre Rechte kämpfenden Kurden festhalten wollen. Nach dem militärischen Sieg gegen die PKK soll nun auch den kurdischen Politikern das Rückgrat gebrochen werden, die eine friedliche Lösung des Konflikts erreichen wollen.
Die Europäische Union muss nun schnell und unmissverständlich reagieren. Die Türkei ist ein strategisch wichtiger Partner am Rande Europas. Es war richtig, dass die europäische Politik sich im letzten Jahr von ihren kulturellen Vorurteilen gegenüber dem muslimischen Land verabschiedete und die davon bestimmte Politik der Abschottung beendet hat. Die politische Annäherung mit dem klaren Ziel der EU-Vollmitgliedschaft der Türkei dient europäischen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen. Doch kann es keine Annäherung um jeden Preis geben. Das haben die europäischen Staaten bei ihrem Treffen in Helsinki deutlich gemacht und die Türkei darauf hingewiesen, dass das Land die westlichen Kriterien für Menschenrechte und Minderheitenschutz akzeptieren und anwenden muss. Diese Kriterien müssen nun unnachgiebig eingefordert werden. Dabei wäre es von großer Bedeutung, die europäische Türkeipolitik mit der amerikanischen abzustimmen, um der Türkei klarzumachen, dass sie es hier mit einer konzertierten Aktion des Westens zu tun hat, als dessen Teil sie sich begreift.
Die Türkei steht am Scheideweg. Sollte die Integration in die EU scheitern, drohen dem Land chaotische Verhältnisse. Die Fliehkräfte der türkischen Gesellschaft, der politische Islam und der kurdische Nationalismus könnten an Gewicht gewinnen und zu einer Zerreißprobe für das Land zwischen Europa und Asien werden. Die wirtschaftlichen Probleme, wie hohe Arbeitslosigkeit und chronische Inflation, sind aus eigener Kraft kaum zu lösen. Türkische Politiker und selbst die Militärs im Land, die aus dem Hintergrund operieren, wissen das. Unlängst hat einer der einflussreichsten Offiziere, der pensionierte General Bir, der Türkei einen strategischen Machtverlust in der Region prophezeit, sollte die Kandidatur der Türkei scheitern.
Die Reformierung der Türkei impliziert vor allem psychologische Probleme. Jahrzehntelang haben Ängste vor dem islamischen Fundamentalismus und dem kurdischen Separatismus die türkische Politik gelähmt und bis heute jede kleine Veränderung verhindert. Die Staatsapparate bleiben unnachgiebig. Den Status quo zu überwinden ist tabu. Die mit der Moderne gleichgesetzte kemalistische Staatsideologie verhindert den Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft. Dabei werden gemäßigte muslimische und kurdische politische Kreise radikalisiert, an den Rand gedrängt und als Gesprächspartner eliminiert. Der Staatsapparat verliert unter bestimmten Bevölkerungskreisen immer mehr an Vertrauen und verzichtet auf jede noch so kleine Geste, um dieses Vertrauen wiederzugewinnen. In den kurdischen Provinzen gibt es inzwischen eine überwältigende Mehrheit für die prokurdische Hadep. Dieser Partei gehören auch die verhafteten Bürgermeister an. Sie ist wie die etablierten Parteien längst marginalisiert. Und genau diese Zustände führen zur Verschärfung der Krisen.
Die Türkei ist heute weit davon entfernt, in der Lage zu sein, ihre Konflikte auf friedlichem Wege zu lösen. Eine europäische Türkeipolitik müsste zuallererst hier ansetzen. Ungeachtet der Tatsache, dass die türkischen Machthaber sich jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes verbitten, gilt es, Konzepte für die friedliche Beilegung des Konflikts mit den Kurden auszuarbeiten. Die Kopenhagener Kriterien, die Menschenrechte und Minderheitenschutz garantieren, bieten dabei eine brauchbare Grundlage. Denn ohne eine uneingeschränkte Anwendung dieser Kriterien gibt es mit der Türkei keine Aufnahmegespräche.
Aber auch die aufgeklärten Politiker in der Türkei, zu denen zum Beispiel Außenminister Ismail Cem zählt, müssen sich langsam die Frage stellen, wie lange sie ihr Gesicht für die Hardliner in den Schaltzentren der Macht hinhalten wollen. Sie stehen kurz davor, ihre Glaubwürdigkeit als demokratisch gesinnte Politiker zu verlieren, wenn sie gegen die Verletzungen des Rechtsstaats nicht deutlich opponieren.
In einem Rechtsstaat dürfen nämlich gewählte Vertreter des Volkes nicht von der Straße weg verhaftet werden. In einem Rechtsstaat darf man Politikern nicht vorschreiben, mit welchen ausländischen Kollegen sie wann und wo Gespräche führen. Es ist an der Zeit, dass vor allem die jungen Politiker in der Türkei gegen die ältere Generation mehr an Konturen gewinnen. Dazu gehört Zivilcourage, die den älteren eindeutig abgeht. Hier hat jahrelange Einschüchterungspolitik der Kriegstreiber allzu deutliche Spuren hinterlassen. Süleyman Demirel und Bülent Ecevit, beide weit über die siebzig, die heute dem türkischen Staat als Staatspräsident und Ministerpräsident vorstehen, haben während ihrer langen politischen Karriere zwei Militärputsche erlebt. Ihr politisches Denken kalkuliert den politischen Einfluss der Militärs, den jeder demokratisch legitimierte Politiker ablehnen müsste, wie selbstverständlich mit ein. Beim Aufbau demokratischer Strukturen haben vor allem diese beiden Politiker versagt, obwohl sie bei freien Wahlen immer wieder das Vertrauen des Volkes bekommen haben.
Der Dialog mit den demokratischen Kräften in der Türkei muss verstärkt werden. Nur so kann die türkische Regierung dazu gezwungen werden, Farbe zu bekennen: ob sie eine demokratische Türkei will, die mit allen Rechten und Pflichten Teil Europas ist, oder eine militaristische Demokratur, die sich früher oder später andere Bündnispartner suchen muss als den Westen.
Zafer Șenocak
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