: In der Tiefe der Unvernunft
Egal was man kocht, am Ende gibt es immer Fish and Chips: Justin Cartwrights Familienroman „Das Glücksversprechen“
von MARION LÜHE
Die Geschichte kommt einem irgendwie bekannt vor. Die Judds, ein in die Jahre gekommenes Ehepaar, genießen den Lebensabend in ihrem schönen Eigenheim im südenglischen Cornwell. Nachdem die Kinder aus dem Haus sind, hat Daphne Judd endlich Zeit für sich selbst und übt sich im Kochen exotischer Fischgerichte. Ihr Mann Charles, ehemaliger Buchhalter in Frührente, spielt Golf und unternimmt lange Spaziergänge am Strand, wenn er nicht gerade die Kaninchen aus dem Garten vertreibt. Doch die Idylle trügt.
Schon auf den ersten Seiten des neuen Romans von Justin Cartwright mehren sich die düsteren Vorzeichen, und bald wird klar, welche Abgründe hinter der schönen Fassade lauern. Die älteste Tochter der Judds, genannt Ju-Ju, eine ebenso schöne wie kluge Oxford-Absolventin und Manhattaner Kunstexpertin, ist unschuldig in den illegalen Handel mit Tiffany-Glasfenstern verwickelt worden und in einem amerikanischen Gefängnis gelandet. Nach zwei Jahren Haft steht nun ihre Entlassung unmittelbar bevor. Ihr Bruder Charlie, der es mit dem Online-Verkauf von Socken zum Millionär gebracht hat, ist nach New York aufgebrochen, um die Schwester nach Hause zu holen und gleichzeitig seiner schwangeren Freundin zu entfliehen. Derweil versucht Sophie, die Jüngste, im nahe gelegenen London ihre Drogen- und Männerprobleme in den Griff zu bekommen. Während Mutter Daphne sich auf die Heimkehr der verlorenen Tochter und die Geburt des ersten Enkelkinds freut, Blumenarrangements für die bevorstehende Hochzeit ihres Sohns trifft und das große Familientreffen organisiert, verfällt der Vater in stumme Depression. Inkontinenz und Gedächtnisstörungen plagen ihn ebenso wie die Schuldgefühle, in den zwei Jahren die geliebte Tochter kein einziges Mal im Gefängnis besucht zu haben.
Diese Figurenkonstellation – umtriebige, harmoniesüchtige Mutter, unkontrollierter Vater, abgestürzte Kinder – kennt man aus zahlreichen amerikanischen Romane von John Updike bis Jonathan Franzen. Auch die Technik des Perspektivwechsels und die realistische Detailversessenheit des Londoner Autors, der in den Vereinigten Staaten aufwuchs, lassen an amerikanische Vorbilder denken. Nach und nach enthüllen sich dem Leser die wohlgehüteten Familiengeheimnisse, die unter der glatten Oberfläche verborgen sind. Der Vorwurf sexueller Belästigung, der wahre Grund für Charles’ frühzeitige Entlassung in die Rente, taucht plötzlich wie ein Gespenst aus der Vergangenheit auf. Auch Daphne hatte im Laufe der sechsunddreißigjährigen Ehe eine heimliche Liebesaffäre. Sohn Charlie, scheinbar der ruhende Pol der Familie, fürchtet sich vor der Geburt des Babys und der Verwandlung seiner glamourösen Geliebten in eine füllige, fröhliche, vernünftig gekleidete Mutter. Auf beinahe inzestuöse Weise fühlt er sich – wie übrigens auch der eigene Vater – von der älteren Schwester Ju-Ju angezogen. Die wiederum hat ihren zwielichtigen Freund Ritchie mit einem anderen betrogen und ist nur in den Knast gewandert, weil sie aus schlechtem Gewissen nicht gegen ihn aussagen wollte. Alle haben etwas zu verbergen, sogar der mysteriöse Selbstmord des Hundes entpuppt sich schließlich als eine Lüge.
Auf leichte, in ihrem hintergründigen Humor sehr britische Weise betreibt Cartwright die Demontage des Traums von der heilen Familie. Die Generationen leben in ganz verschiedenen Welten, und doch gelingt in seltenen Augenblicken so etwas wie Verständigung. Was Eltern und Kinder letztlich zusammenhält, ist ein dichtes Geflecht von Liebe, Schuld und Scham, die rational gar nicht zu erklären sind. Oder, wie Charlie es ausdrückt: „Familie und Sex, beides birgt Abgründe der Unvernunft.“
Der Roman beschreitet diese Abgründe, ohne je abzustürzen. Gerade in den banalsten Augenblicken werden sie sichtbar, und hinter der harmlosesten Plauderei lauern gefährliche Fallstricke, weil über die Wahrheit nicht gesprochen werden darf. Virtuos beherrscht Cartwright das Handwerk der Desillusionierung, auch wenn das Spiel mit Schein und Sein, Erwartung und Enttäuschung mitunter etwas überzogen wirkt. Überall prangen sichtbar die Zeichen des Verfalls: die mickrigen Alpenveilchen, der verkohlte Herd, die bedrohlich vorrückende Kaninchenfront im Vorgarten, Daphnes aufwändige Fischgerichte, die einfach nicht gelingen wollen und regelmäßig in der Mülltonne landen, sind nur einige davon.
So ist es eben mit den „Glücksversprechen“, lautet – ein klein wenig zu plakativ – die Botschaft des Romans. Egal was man kocht, am Ende gibt es immer Fish and Chips.
Justin Cartwright: „Das Glücksversprechen“. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Zsolnay, Wien 2006, 394 S., 24,90 Euro