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■ In den sogenannten Ghettos landen die Verlierer der Konsumgesellschaft – unabhängig von ihrer ethnischen ZugehörigkeitDie Sucht nach Identität

Nach dem Fall der Mauer wurde folgende Parole ausgegeben: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Aus der Überwindung der deutschen Teilung wurde ein Einheitstrauma. In den letzten sieben Jahren mußte eine bittere Erfahrung gemacht werden: Was nicht zusammengehört, wächst auch nicht zusammen. Für die Einheitstheoretiker sollten Ost- und Westdeutschland schon deshalb zusammengehören, weil in beiden Ländern Deutsche lebten. Wie weit nationale Identität in unseren Tagen zur Zusammengehörigkeit beiträgt, dürfte der deutsche Wiedervereinigungsprozeß in ausreichendem Maße illustriert haben.

Die Deutsche Mark ist inzwischen ein weitaus bedeutenderes Identitätsmerkmal als der deutsche Paß, den heutzutage sogar ein Türke erwerben kann. Bedeutend kann es auch sein, ob man Hans Meiser oder Jürgen Fliege bevorzugt, ob man Techno hört oder nicht, ob man ein deutsches oder japanisches Auto fährt. Denn auch in Deutschland lebt man nicht in der deutschen Gesellschaft, sondern in einer transnationalen Konsumgesellschaft. In einer solchen Gesellschaft gibt es für die Mitglieder weder Integration noch Segregation, sondern die ultimative Vernetzung. Diese Vernetzung ist weder Katastrophe für die Seele des einzelnen noch Allheilmittel gegen die Kinderkrankheiten moderner Gruppen wie Identitätsverlust oder Identitätssucht.

Wer heute mit Begriffen wie Identität, Integration oder Segregation die Migrationsprozesse und den Wandel in den Großstädten diskutiert, lebt, so scheint es mir, auf einem anderen Stern. Die sogenannten Ghettos sind doch nichts anderes als zweite und dritte Ligen, in denen die Verlierer der Konsumgesellschaft landen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Es wäre jedoch völlig verkehrt, das Ghetto als einen räumlichen Begriff zu verstehen. Wer Ghettos meint, aber von Stadtvierteln spricht, hat ein völlig überholtes Konzept von Raum vor Augen, das einer Zeit entstammen mag, als räumliche Expansion und der Bau von Festungen Machterhaltung garantierte. Stadtviertel in Metropolen sind viel zu heterogen, um statische und konstante Identitäten zuzulassen. Vielmehr sind die sogenannten Ghettos Räume ständigen und drastischen Wandels, der harten Identitätsbrüche. In diese Räume gehört die Moschee mit einer Tischtennisplatte im Keller ebenso wie die heterogene Rapper-Sprache, die weder Türkisch noch Arabisch, noch Deutsch ist, sondern mehrfache Überwindung von Sprach- und Kulturgrenzen signalisiert.

Was am sogenannten Ghetto verunsichert, ist nicht die kulturelle Homogenität, der eigentliche Ghettokandidat, sondern die Heterogenität, wo fremde Elemente dem Vertrauten gefährlich nahe kommen. Vermischung findet auch dann statt, wenn man es nicht wahrhaben will. Die eigentliche Frage ist, wie man mit dieser Tatsache umgeht. Die Integration von Ausländern in die deutsche Gesellschaft kann niemals gelingen, wenn bereits die physische Existenz des Fremden als Integrationshindernis gesehen wird. Wie kann man es sonst erklären, daß schon die Anzahl von Ausländern ausreicht, um einen Stadtteil als Ghetto zu bezeichnen. Ein nicht geringer Teil der ausländischen Bewohner dieser als Ghetto bezeichneten Stadtteile sind dort Geborene, also Einheimische. Ihnen wird eine fiktive authentische Kultur zugeschrieben, die weder von ihnen geschaffen wird noch ihre in komplizierter Weise verknäuelten Identitätsfäden entwirren kann. In den sogenannten Identitätsdebatten wird der Begriff der Identität zunehmend unkritisch verwendet.

Diejenigen, die gestern noch die multikulturelle Gesellschaft bejubelten, sind fast die gleichen, die heute das Scheitern der Integration beklagen. Die meisten intellektuellen Beobachter in diesem Land vertrauen nicht der Konsumgesellschaft. Diese Haltung zählt zu ihrem Berufsethos. Deswegen sind sie auch nicht in der Lage, die Auswirkungen der Konsumgesellschaft zu beschreiben und zu begreifen.

Statt dessen konstruieren sie eine romantische Welt, in der die eine „authentische“ Kultur einer anderen „authentischen“ Kultur begegnet. Wie im Labor werden Kulturen auf ihre möglichst keimfreie Begegnung vorbereitet. In der Zwischenzeit aber zerfallen alle konstruierten nationalen kulturellen Einheiten in völlig unüberschaubare Subkulturen. Türkische schwule Männer, die alevitische Tanzgruppe, der Förderverein der Kemalisten und die Anhänger einer islamischen Republik, sie alle mögen aus demselben Land stammen, was aber haben sie noch gemeinsam? Was sie einen könnte, ist nicht ihre gemeinsame Anschauung, ihre Lebenswirklichkeit oder irgendein ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern der Blick, der auf sie gerichtet wird, die Stigmatisierung als ausländisch, fremd, nicht deutsch. Dieser stigmatisierende Blick hat sich inzwischen in der deutschen Medienwirklichkeit etabliert, durchaus mit Folgen. Zum einen hat er die Absorbierungskraft der deutschen Gesellschaft gehemmt, eine Art Immunität gegenüber dem als fremd Empfundenen aufgebaut. Zum anderen hat er die Stigmatisierten in eine Koalition der Fremden gezwungen, ihnen eine künstliche Identität verschafft, die wieder mit Begriffen wie Authentizität beklebt werden kann.

Jede Debatte schafft ihre eigene Wirklichkeit. In der Migrationsdebatte aber wird inzwischen die Wirklichkeit mit der Debattenwirklichkeit verwechselt. Diese Verwechslung macht die Debatten zunehmend wirklichkeitsuntauglich. Die Einwanderungsgesellschaft Deutschland braucht weder Integration noch Segregation. Sie braucht eine politische Führung, die das dynamische Potential, das in diesem Land nach wie vor steckt und durch Einwanderung eher gestärkt als geschwächt worden ist, wieder in Gang setzen kann. Einwanderungsprozesse sind widersprüchlich und können mit fixierten Begriffen kaum erfaßt werden. Sie zu steuern und zu gestalten erfordert flexibles Denken, den Abschied von Denkschablonen und tradierten Begriffen. Ein Land, dessen geistige und politische Elite jedoch meint, sie hätte es nicht nötig, sich einer solchen Herausforderung zu stellen, kann nur irrationale, angstbesetzte Debatten hervorbringen, in denen lamentiert und stigmatisiert wird. Genau wie die deutsche Wiedervereinigung ein geteiltes und zugleich vereintes Deutschland hervorgebracht hat, führt auch die Einwanderung zu neuen Paarungen und Trennungen. Es wächst eben nicht immer zusammen, was zusammengehört. Zafer Șenocak

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