In den Krallen des Marktes: Eine unterkühlte Schatzsuche
Neulich im Laden der Hamburger Stadtreinigung: die Kommerzialisierung der verstaubten „Gebrauchtwarenwelt“ trifft unsere Kolumnistin.
A us der Tagesschau erfahre ich, dass „Secondhand-Kleidung boomt“. Bedeutet das, die Deutschen werden nachhaltig – oder die Deutschen kaufen sich zu viele Klamotten, die sie bald wieder loswerden müssen, um neue kaufen zu können?
Ich bin ein Mensch, der seine festen Gewohnheiten hat, Rituale der Freude. Montags gehe ich zu Stilbruch, das ist ein Laden der Hamburger Stadtreinigung. Was die einen loswerden wollen, hat für die anderen noch einen Wert – und davon gibt es wenigstens zwei: den ideellen und den Marktwert.
Letztens habe ich mir einen getöpferten Vogel gekauft. Er ist ein bisschen unförmig und ich habe mich sofort in ihn verliebt! Einen Euro hat er gekostet und sitzt jetzt unter meinem Weihnachtsstrauß. Was ist sein Wert? Ich finde ihn wundervoll, auf Ebay würde man wohl nichts dafür kriegen.
Bis noch vor ungefähr einem Jahr konnte man im Stilbruch gut nach Platten stöbern. Da steckte Drafi Deutscher zwischen Miles Davis und Samantha Fox. Eine Platte für zwei Euro. Aber mittlerweile lohnt es sich kaum noch, in den Fächern zu stöbern, sie sind auch ganz leer. Täglich kommen die Händler, bewaffnet mit ihrem Handy, damit sie die Preise checken können, und kaufen alles auf, was sich irgendwie verticken lässt. Sie lassen mir, die ich eine Platte kaufe, um sie mir später zu Hause anzuhören, nichts mehr übrig.
Ware verknappt, steigender Preis
Ich hatte einmal die Idee, mir alle „Maigret“-Bände von Georges Simenon zu kaufen, in der Ausgabe von Diogenes. Jeden Monat leistete ich mir eines dieser Bändchen für zehn Euro, bis plötzlich die Rechte an einen anderen Verlag gingen. Plötzlich konnte ich den nächsten Band der Reihe nur noch gebraucht erwerben, aber zu einem hohen Preis. Da die Ware verknappt war, stieg der Preis. Die dünnen Büchlein, die einst zehn Euro kosteten, kosten jetzt vielleicht fünfundfünfzig.
Noch kurz vorher hätte man gebrauchte Bände für drei Euro kaufen können. Ebay und das Internet mit all seinen Verkaufsplattformen haben dazu geführt, dass sich der aktuelle Marktwert jeden Gegenstandes auf der Stelle ermitteln lässt, und wer sich die Mühe macht, kann sich mithilfe seines Handys ein kleines Geschäft aufbauen.
Wir leben alle in dieser Welt des Marktes und handeln nach seinen Regeln. Die Professionalisierung und Kommerzialisierung der gemütlichen und verstaubten „Gebrauchtwarenwelt“ trifft mich aber persönlich, weil es mir die Romantik zerstört, das Gefühl, etwas finden zu können, einen Schatz, wenn ich nur lange genug stöbere. Einen handgetöpferten Vogel kann ich sicherlich noch immer im Stilbruch finden, eine richtig geile Platte aber kaum.
So ist es auch mit den Tauschhäuschen, auf den Flohmärkten, mit all den Dingen, die in der Stadt fast oder ganz verschenkt oder abgegeben werden. Hegt man den schönen Gedanken, Dinge weiterzugeben, dann stellt man sich doch vor, großzügig und eine Schenkende zu sein. Einmal will man kein Geschäft aus einer Sache machen, und dann nimmt der Beschenkte die Sachen an sich, um sie zu verkaufen?
Vielleicht ist es ja bigott, den Jäger*innen moralisch zu kommen, sie zu verurteilen, denn sie tun ja nur, was wir alle tun: Sie machen etwas zu Geld. Ich mache meine Texte zu Geld. So what! Wenn ich denen also was schenke, unterstütze ich ihr Geschäft und trage zu ihrem Lebensunterhalt bei – bemühe ich mich zu denken. Aber es gefällt mir nicht. Es kommt mir vor, als ob die Krallen des Marktes in jede noch so verstaubte Nische grabbeln, um auch die letzte Staubfluse zu Geld zu machen.
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