piwik no script img

■ In den Berichten westlicher Medien über Jelzins Krankheit werden gern alte Rußlandklischees aufgewärmtIm Vollrausch unterm Messer

Kaum hatte der russische Starchirurg Renat Aktschurin das Skalpell am Präsidentenleib angesetzt, da ratterten schon die ersten Nachrichtenticker. „Herzoperation des russischen Präsidenten hat um fünf Uhr begonnen ...“ „Herzoperation von Boris Jelzin läuft nach Angaben des Präsidialamtes in Moskau plangemäß ...“ Schade nur, daß sich nicht, zumindest verschämt hinter der Herz-Lungen- Maschine, ein paar Kameraleute postieren durften. Es wäre doch so schön gewesen, bei der Operation vom ersten bis zum letzten Schnitt herznah dabeizusein.

Nun ist es nicht ungewöhnlich, daß auch ein Staatschef mal krank wird und unters Messer muß. Ungewöhnlich ist auch nicht, daß die Öffentlichkeit am Schicksal eines Präsidenten besonderen Anteil nimmt und stets nach den neuesten Informationen hungert. Zumal die Frage, wer den Finger auf dem roten Knopf hat, alles andere als irrelevant ist.

Im Fall von Jelzin liegen die Dinge hingegen etwas anders. Er ist nämlich nicht irgendein Staatschef, sondern der Präsident Rußlands, zumindest bis jetzt noch. Das ist für viele westliche Medien schon Grund genug, mit wilden Spekulationen und Katastrophenszenarien aufzuwarten. Von einem drohenden Machtvakuum ist da die Rede, in das so gewiefte Politiker wie zum Beispiel der umtriebige Chef des Präsidentenamtes, Anatoli Tschubais, mit aller Kraft hineinstoßen. Und das um so mehr, als der Höhenflug von Alexander Lebed (Schwan) unlängst mit einer Bruchlandung endete.

Zweifellos, das Gerangel um die Nachfolge Jelzins ist bereits in vollem Gange. Nur, wäre das in anderen Ländern nicht so? Flankiert werden derlei Einschätzungen von Meldungen über meuternde Soldaten und streikende Arbeiter – Erscheinungen, die nicht erst seit gestern zum russischen Alltag gehören. Dennoch scheint festzustehen: Rußland droht das Chaos („Das Ärgste wird möglich“, so der Tagesspiegel am 7.Oktober). Das veranlaßte übrigens Verteidigungsminister Igor Rodionow dazu, Gerüchten eines Putsches am Tag der Operation erneut mit Nachdruck entgegenzutreten.

Merkwürdig ist nur, daß besonders im Westen die Lobeshymnen nach der Präsidentenwahl vom Juli nicht laut genug sein konnten. Die Wahlen hätten gezeigt, so oft der Tenor auch in der taz, daß Rußland endlich den Pfad der Demokratie beschreite. Dabei flossen die positiven Kommentare wohl um so leichter aufs Papier, als die Russen mit Jelzin den „Richtigen“ gewählt und die demokratische Reifeprüfung bestanden hatten.

Daß Jelzin nicht zum erstenmal krankheitsbedingt ausfällt und jetzt schon monatelang nicht wirklich regiert, dafür aber andere die Fäden ziehen, liegt auf der Hand. Doch jetzt, wo noch niemand weiß, ob Jelzin wirklich in den Kreml zurückkehren kann, scheint plötzlich die ganze demokratische Entwicklung Rußlands in Frage gestellt. Wie schrieb Harald Martenstein einmal im Tagesspiegel über die Mythen der Nachkriegszeit: Für die Westdeutschen war „der Russe ein unzivilisiertes, ein affektgesteuertes Wesen, sozusagen der Prolet unter den Völkern“. Wir wußten es schon immer: Rußland, die große Unbekannte.

Mindestens genauso wichtig wie die Analyse möglicher neuer Kräftekonstellationen an der Staatsspitze ist der russische Präsident selbst. Und der wurde genüßlich ausgeweidet, schon lange bevor er überhaupt auf dem Operationstisch lag. An dem Debakel ist natürlich der Alkohol schuld. Deshalb ist Jelzin, wie wir an diesem Mittwoch aus der taz erfahren konnten, wohl auch der einzige Staatschef der Welt, der sogar noch in Narkose zu seinem Volk sprechen kann. Das ist eben kein Problem für einen, der sowieso die meiste Zeit im Vollrausch dahindämmert. Es lebe das Klischee vom ewig besoffenen Russen.

Die Berichterstattung des Westens über den Gesundheitszustand Jelzins sei schon bemerkenswert, befand unlängst die russische Tageszeitung Sewodnja. „Die westlichen Medien wetteifern beim Erfinden verschiedener Angstszenarien im Zusammenhang mit Jelzins Gesundheit. Der Rausch der westlichen Kollegen ist zum Teil aus menschlichen Gründen verständlich: In den vergangenen 20 Jahren bestand die Arbeit eines ausländischen Journalisten (in Moskau) aus einem Gemisch von Thriller, Esoterik und Gefahr, was eine berauschende Abhängigkeit hervorruft. Inzwischen wandeln sich die Zeiten in Rußland: Politiker ähneln immer mehr denen im Westen, die Situation im Lande fügt sich irgendwie, immer weniger läßt sich zwischen den Zeilen lesen. (...) Es scheint jedoch, daß man bei der Jagd nach starken professionellen Erlebnissen auch über die Stränge schlagen kann.“

Dies wird im Falle von Jelzins Krankheit munter gemacht. Aufällig dabei ist, daß je nach Argumentation Unterschiede zwischen Rußland und den westlichen Staaten zugekleistert, gleichzeitig aber da konstruiert werden, wo es sie eigentlich nicht gibt. Wie sonst ist zu erklären, daß die anfängliche Verschleierungstaktik des Kreml bei Jelzins drittem Herzanfall vor der Stichwahl, so kritikwürdig sie auch war, als typisch russische Erscheinung klassifiziert wurde?

Jetzt bemüht sich der Kreml um eine neue, offenere Informationspolitik. Doch auch das wird eher mit Häme und Argwohn registriert. So recht will man den Russen denn doch nicht glauben. Manch einer hört schon insgeheim wieder, allen Erfolgsmeldungen der Operation zum Trotz, die ersten Takte der Klaviersonate in C-moll Opus 72b von Fredeŕic Chopin. Dieser Trauermarsch ertönte bekanntlich immer beim Ableben eines Sowjetführers. Allerdings erst dann, als der Betreffende schon längst steif war.

Erinnert sei an die Diskussion in Frankreich nach dem Tod von François Mitterrand Ende letzten Jahres. Dessen Leibarzt hatte in einem Buch enthüllt, daß der Präsident schon bei seinem Amtsantritt 1981 an Krebs erkrankt war. Das Problem war nicht nur, daß Frankreich 14 Jahre lang von einem todkranken Staatschef regiert worden war. Vielmehr war die Frage, wo die Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit endet und die Verletzung der Würde eines Staatschefs anfängt. Das Buch wurde sofort nach Erscheinen aufgrund einer Klage der Familie Mitterrand vom Markt genommen. Begründung: Der Ex-Präsident sei in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt worden. Und Jacques Chirac? Er hat die Veröffentlichung von Bulletins über seinen Gesundheitszustand abgelehnt.

Über Jelzin wurde wenige Tage vor seiner Operation das erste Gesundheitsbulletin veröffentlicht. Barbara Oertel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen