: In Fußballland
■ Christoph Biermann
Mein Vater war nicht zu Hause, und vielleicht hatte ich darauf spekuliert. Ohne einen Vorwand wäre es mir wohl zu sentimental vorgekommen, an diesem schönen Sonntag im Herbst eine gute Stunde mit dem Auto zu fahren, um mir ein Spiel der vierten Liga anzuschauen. Wenn auch nicht irgendein Spiel irgendeines Oberligisten. Früher war ich oft am Schloss Strünkede gewesen.
Bei Westfalia Herne scheint die Zeit fast stehen geblieben zu sein
Zunächst mit meinem Vater, irgendwann mit meiner ersten Freundin, die Fußball hasste und am Ende den Vorsitzenden des Vereins heiratete. Hier hatte ich meine ersten Fußball-Helden verehrt, hier hatte ich mich in das Spiel verliebt.
Mit den diversen Abstiegen waren meine Besuche seltener geworden, in den letzten fünf Jahren hatte ich vielleicht noch drei Spiele gesehen. Westfalia Herne war zwischendurch bis in die Landesliga verschwunden, in die sechste Klasse, wo sich der Fußball nicht mehr viel von eigenen Bemühungen unterscheidet. In den letzten beiden Spielzeiten hatte sich die Situation durch zwei Aufstiege hintereinander wieder verbessert, aber an diesem Sonntag suchte ich etwas anderes als erfolgreichen Sport.
Ich fand es gut, vor dem Kassenhäuschen aus Backstein in einer Schlange warten zu müssen. Der SCW 04 ist der FC Bayern der Oberliga Westfalen. Zu den Heimspielen kommen meist um die tausend Zuschauer, und selbst zu Auswärtsspielen reisen ein paar hundert Fans mit – beeindruckende Zahlen für die vierte Liga. Ich erkannte einige Gesichter von damals wieder. Mitte der Siebzigerjahre hatten wir gemeinsam zugeschaut und im Fan-Club besungen, wie Westfalia in die Zweite Liga aufstieg und an einem historischen Sonntag gegen den späteren Aufsteiger Borussia Dortmund mit 2:1 gewann. Als Peter Cordes den entscheidenden Elfmeter verwandelte, jubelten die 27.000 Zuschauer so laut, dass meine Mutter es noch zu Hause hören konnte – zwanzig Minuten entfernt.
Es waren im Laufe der Jahre aber auch andere Besucher dazugekommen. Einer drängelte sich in der Schlange vor der Stadionkasse an mir vorbei. Er trug eine hellgrüne Bomberjacke, kurzgeschorenes Haar und Springerstiefel. Auf dem Anstecker am Kragen der Jacke stand „White Power“. Der Jungnazi mit Brille redete mit seinem Vater darüber, wie viele Brötchen er für seine Geburtstagsparty bestellen müsse. Die Tristesse von Herne, einer der ärmsten Städte im Ruhrgebiet, muss sich nicht hinter der in Ostdeutschland verstecken. Gegenüber der Tribüne, am Rand der langen Stehgeraden, saßen ein paar Männer auf den Stufen, die schon etliche Flaschen Bier leer gearbeitet hatten. Als sie einen Anhänger der Gastmannschaft verscheuchen wollten, der in ihrer Nähe jubelte, waren sie bereits zu betrunken.
Das Stadion mit seiner großen Tribüne und den weitgezogenen Stehtraversen ist immer noch schön, weil es von Bäumen eingefasst ist. Nur ist es viel zu groß. Seltsamer noch als die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage erschien mir aber, dass sich so wenig geändert hatte. Keine Umbauten, immer noch die alten plärrenden Stadionlautsprecher, nur die Stadionuhr war nicht mehr da. Die Zeit schien hier fast stehen geblieben.
Was bedeutete das für jene Leute, die all die Jahre nicht gegangen waren? Ich mochte sie nicht fragen, denn das hier, so dämmerte mir, war nicht mehr mein Ort. Deshalb suchte ich in der zweiten Halbzeit den Abstand zu vergrößern und setzte mich in den Scheitelpunkt der Kurve, die ich fast für mich allein hatte. Das Spiel wurde zu einem wunderbaren Auf und Ab, Westfalia holte einen Rückstand von zwei Toren auf, obwohl sie in Unterzahl spielte. Beim zweiten Treffer sprang ich auf, jubelte laut und war darüber einen Moment lang überrascht. Unter dem Tribünendach hallten Anfeuerungsrufe wieder, die Mannschaft gab alles. Und doch wurde Westfalia am Ende zum romantischen Verlierer, als die Gäste mit dem letzten Schuss den Siegtreffer erzielten. Ihr Freistoß flog in den Winkel, und unsere Spieler sanken enttäuscht auf dem Rasen zusammen. Ich applaudierte ihnen von meinem fernen Platz in der Kurve, dann rief ich meinen Vater an. Er war immer noch nicht zu Hause.
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