: In Fischschuppen lesen
Seit Jahresbeginn kreuzt die „Piscator“ auf Berlins Gewässern. Das Forschungsschiff überwacht die Fisch- und Wasserqualität. Eventuelle Umweltveränderungen sollen so rechtzeitig erkannt werden
VON TANIA GREINER
Grüne, blaue und rote Gebilde ziehen in unregelmäßigen Abständen vorüber. Plötzlich häufen sich rote, dicke Kleckse. „Wow, das sieht gut aus“, freut sich Jürgen Weiß und zieht an seiner Zigarette. Im engen Schiffsraum sammelt sich dicker Qualm. Abwechselnd schwenken die Blicke des Schiffführers hinaus auf die glatte Wasseroberfläche des Tegeler Sees und wieder zurück auf den Bildschirm. „Jeder Klecks ist ein Fisch“, erklärt der Steuermann. Größere Kleckse könnten auch kleinere Fischgruppen sein – vermutlich Brassen oder Bleie. So genau könne man die Echolotgrafik noch nicht interpretieren, gibt der Kapitän zu.
Seit Anfang des Jahres sind Jürgen Weiß und die Mitarbeiter des Berliner Fischereiamtes mit dem Fischereiforschungsschiff „Piscator“ – lateinisch: der Fischer – auf den Gewässern Berlins und Brandenburgs unterwegs. Etwa einmal im Monat fahren sie mit dem kleinen Kahn raus. Die „Piscator“ soll im Dienste der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Fischqualität überwachen und die Entwicklung der Fischbestände kontrollieren, um erforderliche Maßnahmen zum Erhalt der Fischarten zu treffen.
Finanziert wurde das Schiff zum Großteil aus Mitteln der Europäischen Union. Die Baukosten betrugen rund 500.000 Euro, die technische Ausrüstung weitere 125.000 Euro. Dazu gehören etwa das Echolot, ein GPS-System sowie eine Anlage zur Messung der Gewässergüte.
Mit neuester Technik ausgerüstet soll die „Piscator“ in Zukunft automatisch die Fischbestände in den Gewässern erfassen. Dafür müssen zunächst viele Echolotdaten gesammelt und Fischproben entnommen werden. Die Echolotgrafiken werden dann mit gefangenen Fischen abgeglichen, um die Grafiken zu überprüfen. Über die Schallwellen des Echolots erfasst die „Piscator“ jeden Fisch, der unter ihrem Bauch vorbeizieht. Es erkennt die Fischblase im Innern des Tiers. Die Größe des Fischkörpers wird an den Computer übermittelt, aufgezeichnet und grafisch dargestellt.
„Hund geht raus“, tönt es über das winzige Deck. In der Mitte dreht sich eine große Metallwinde. Fischmeister Olaf Küster, bekleidet im weiß-blau gestreiften Fischerhemd und grüner Kunststoffhose, rollt das gelbe Maschennetz in Richtung Wasser ab. Der „Hund“, eine Boje, am Zipfel des kegelförmigen Schleppnetzes befestigt, tanzt im Wasser. Durch eine Bleileine beschwert und von Drahtseilen aufgespannt taucht das Netz ab. Zwei Meter über dem Seeboden streift es durchs Wasser.
„Sehen Sie, viele Fische werden uns nicht ins Netz gehen“, sagt Kapitän Weiß und zeigt auf die Echolot-Darstellung. Blaue zackige Berge tauchen an der unteren Seite des Bildschirms auf. „Hier ist offensichtlich viel Bodenbewuchs.“ Gut für die Fische, meint der Schiffsführer, denn hier fänden sie Nahrung.
Das war nicht immer so, weiß Susanne Jürgensen. Die kleine, grauhaarige Frau im Baumwoll-Fischerhemd ist schon seit 20 Jahren für das Fischereiamt der Senatsverwaltung tätig. Seit Anfang des Jahres steht das Amt unter ihrer Leitung. „Mit dem Bau der Oberflächen-Aufbereitungsanlage Tegel 1985 hat sich die Lebensqualität der Fische im Tegeler See deutlich verbessert“, sagt die Diplom-Biologin. Davor sei der See trübe gewesen, mit einer Sichttiefe von wenigen Zentimetern, überall wucherten Algen. Heute könne man drei Meter tief ins Wasser blicken.
„Vorher gab es hier fast keine Pflanzen und im See tummelten sich zu viele Bleie“, sagt Susanne Jürgensen. Die fraßen das Zooplankton und verminderten so den natürlichen Fressfeind der Algen. Es entstand ein Ungleichgewicht, das im übermäßigen Algenwachstum gipfelte. Anfang der 80er-Jahre drohte dem Tegeler See wegen Faulschlammbildung das „Umkippen“.
Mitverursacher des Übels war das nicht ausreichend gereinigte Abwasser aus dem Klärwerk Schönerlinde, das in den Tegeler See fließt. In der Anlage am Tegeler Hafen wird das Wasser nun mit einer vierten Reinigungsstufe gesäubert. Gründlich vom Phospor befreit, den der Mensch ausscheidet, hat der Tegeler See heute die beste Wasserqualität unter den Berliner Gewässern: Güteklasse II. Die EU-Wasserrahmenrichtlinie schreibt sie ab 2015 für alle europäischen Gewässer vor.
„31 Zentimeter! 435 Gramm!“ Fischmeister Küster hält einen kräftig zappelnden, silbergrau schillernden Fisch in der Hand. Routiniert legt er das Tier auf Messbrett und Waage. Ein Kollege notiert die Daten. Eingeholt haben sie das Netz. Die recht kleine Beute von etwa 20 Fischen rührt sich in einer großen Plastikschüssel auf Deck. „Das sind sehr gut gewachsene, junge Fische, mit starkem Rücken“, staunt Jürgensen. Es sind Bleie und Plötze, in Berliner Gewässern neben Barschen die häufigsten Fischarten. Vor dem Bau der Anlage seien die Fische viel kleiner gewesen, Jungfische waren eher selten. Ein Zeichen für die Diplom-Biologin, dass Nahrung und Fischfang im Tegeler See heute optimal auf den Fischbestand abgestimmt sind. Die Fische finden genug Futter, wachsen schnell heran, werden aber auch rechtzeitig abgefischt.
Mit einer Pinzette beginnt die Fischkennerin an der glänzenden Haut einer Plötze zu puhlen. „Eine Schuppe kann uns sehr viel über den Fisch erzählen“, sagt sie. Feine Ringe, gelegentlich unterbrochen von stärkeren Rillen, werden unter dem Mikroskop sichtbar. „Diese Plötze ist im vierten Lebensjahr“, stellt Biologin Jürgensen fest. Mit jedem größeren Ring verstreiche ein Lebensjahr. „Ein junges, gut ernährtes Tier.“ Der Fisch scheine bislang ein angenehmes Leben gehabt zu haben. Denn auch extreme Ereignisse, wie Sauerstoff- oder Nahrungsmangel, Krankheiten oder kalte Winter, lassen sich aus der Schuppenstruktur herauslesen. Dann sind die Ringe sehr eng angelegt.
„Wir müssen das Leben der Fische kennen, damit wir Rückschlüsse auf die Umwelteinflüsse ziehen können“, erklärt Susanne Jürgensen weiter. Manchmal untersucht ihr Team auch den Mageninhalt der Fische, um festzustellen, wovon sich die Tiere ernähren. Die Daten werden akribisch notiert, gesammelt und im Fischereiamt ausgewertet. Auf der Grundlage des gewonnenen Forschungsmaterials soll künftig gehandelt werden. Etwa dann, wenn natürliche Nahrungskreisläufe unterbrochen sind, wenn Fischarten aussterben oder in Massen auftreten.
Am Ende der Untersuchung leert Fischmeister Küster den vollen Fischkübel über Bord. Die Beute, vermessen und notiert, darf zurück in den See und weiterschwimmen. Erhalten bleiben wertvolle Daten.