■ In Berlin-Kreuzberg schwört die alternative Bevölkerung noch auf Distanz in Sachen Weihnachten – und wie!: Seligkeit zwischen Tannenbäumchen und Schifferklavier
Ich bleibe nur mit Baum“, hatte ich meiner neuen Freundin unumwunden erklärt, „sonst feiere ich bei meiner Mutter.“
Eine neue Liebe stellt dein ganzes Leben wieder in Frage. Und spätestens an Weihnachten kommt es gewissermaßen zur Gretchenfrage: Wie hältst du's mit dem Fest der Liebe?
Meine Freundin war damals, Ende der Achtziger, noch total alternativ und deshalb natürlich strikt gegen einen Baum. Ich fand ihren zur Schau getragenen Widerstand gegen jeglichen adventlichen Brauch lächerlich kleinbürgerlich und bestand um so hartnäckiger auf der Einführung unserer eigenen familiären Traditionen. Schon weil wir lesbisch sind und sich das Familienidyll nicht von selbst einstellt.
Über einen selbstgeschmückten Adventskranz und eine handgefertigte Pyramide aus dem Erzgebirge tasteten wir uns langsam an die Sache heran. Unser erstes Bäumchen mußte wiederverwertbar sein. Es war krumm und häßlich – ein klassischer Zuspätkauf und also ob seines mitleiderregenden Aussehens für meine Freundin alternativ genug. So konnten wenigstens alle, die sich für den ersten Feiertag angemeldet hatten, um das Kuriosum zu bestaunen, gleich sehen, daß dieser Baum nicht ernstgemeint war.
Die alte Dame von schräg gegenüber hatte diesen diskreten Hinweis wohl übersehen. Wie sie uns kurz vor Silvester an den Briefkästen gestand, hat sie durch ihr kleines Klofensterchen einen schmalen Einblick in unser Wohnzimmer. In der Heiligen Nacht schaute sie eher aus alter Gewohnheit noch einmal über den tristen Kreuzberger Hinterhof – in der sicheren Gewißheit, alle Fenster seien wie immer dunkel und verwaist. Denn die „Kreuzberger Mischung“ unseres Blocks will es, daß die kleinen Kohleofenwohnungen ausschließlich von jungen Studenten und alten Leuten bewohnt werden, und beide Gruppen fahren über die Feiertage meist zu ihren Verwandten.
Die Nachbarin sah also einen Zipfel unseres kleinen schiefen Bäumchens und freute sich über uns und unser Tun. Bis zu dieser Nacht hatten wir mit der Dame kaum mehr als ein „Guten Morgen“ oder „Guten Abend“ ausgetauscht. Jetzt, ermutigt von unserem leuchtenden Bäumchen, sprach sie uns an. „Sah so gemütlich aus“, meinte sie und hatte meine Freundin damit bis ins Mark erschüttert. Natürlich haben wir sie trotzdem gleich hereingebeten, um sich die Tanne vollständig und aus der Nähe anzusehen. Und mit Sicherheit hat sie sofort geblickt, wie meine Freundin und ich verbandelt sind.
Es schien sie nicht weiter zu bekümmern. Seit diesem Weihnachten schwätzen wir auf der Treppe, beschenken uns an unseren Geburtstagen mit kleinen Blumensträußen und an Nikolaus mit Keksen. Wir sind jetzt in ihre Hausgemeinschaft aufgenommen. Obwohl wir auch vorher schon mehrere Jahre lang dort wohnten, haben wir den Block nach diesem Weihnachten noch einmal mit ganz neuen Augen kennengelernt.
Auch unsere Bekannten hatten ihre Freude an unserem Bäumchen. Nur war die eben mit sehr viel Mühe ironisch gebrochen. Eine Freundin kam mit ihrem Schifferklavier und bot ein Ständchen dar. Ein Kommilitone warf sich in Schale und spendierte eine Flasche Weinbrand. Alles in allem war es ein sehr schönes Fest. Mit den Jahren wurde unser Bäumchen immer wohlgewachsener. Aber wir kaufen ihn immer noch am letzten Tag vor dem Fest. Sicher ist sicher. Klaudia Brunst
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen