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Immerhin die Rente ist ihm sicherwarum gab cem özdemir auf?Zu wenig Kraft

BERLIN taz ■ Der Hemdkragen steht offen, als Cem Özdemir die lange weiße Rampe zum Eingang des Bundespresseamtes hinaufläuft. Seine Hände hat er beide in den Hosentaschen vergraben, was seinem Gang etwas merkwürdig Steifes gibt. Noch haben die Kameras den hoch gewachsenen, dunkelhaarigen Mann nicht entdeckt und für einen Moment erinnert seine Silhouette an einen Westernhelden, der, die Hände am Colt, zum letzten Duell antritt. Doch um 14.58 Uhr an diesem Freitag hat der erste deutsche Abgeordnete türkischer Herkunft die Waffen bereits gestreckt.

„Man hätte das durchstehen können“, meint ein Fraktionsinsider, „aber ich weiß nicht, ob Cem Özdemir das hätte durchstehen können.“ Immer schon waren die Erwartungen enorm, die sich auf den Multikulti-Star türmten – und er hat mit seiner Freude am Scheinwerferlicht kräftig dazu beigetragen, dass sie noch stiegen. Gleichzeitig, glauben Freunde, tat er sich mit der Selbstverteidigung schwerer, als es seine Interview-Offensive am letzten Wochenende vermuten ließ. Wer als Einwandererkind vor allem dazu gehören will, so lautet eine vielleicht zu wohlwollende Sicht, den trifft Kritik immer gleich ins Mark der eigenen Identität.

Doch gestern war nicht die Stunde der Psychologen, sondern der Politik. Und so bemühte sich Parteichef Fritz Kuhn eine Stunde nach Özdemirs überraschender Pressekonferenz um eine gewagte Kombination aus Gedenkminute für einen Gefallenen und Trompetenstoß zur Sammlung der verstörten grünen Truppen. „Cem Özdemir hat viel für die grüne Politik getan“, rühmt Kuhn daher. Zugleich sei der Abgang, so legt der Parteichef nahe, fast schon ein gutes Zeichen: „Er zeigt, dass Grüne, wenn es drauf ankommt, Verantwortung übernehmen.“

Genau an diesem Signal hatte es gemangelt, seit vor einer Woche Özdemirs erste Verwicklung in den Hunzinger-Komplex bekannt wurde. Hinzu kam der Fehler der Parteiführung, die Causa Ö. schnell, zu schnell für beendet zu erklären. Damit legten sie die Latte so hoch, dass Özdemir sie schon beim geringsten Verdacht weiterer Unregelmäßigkeiten reißen musste.

Der Abschied des Grünen zeigt zugleich, wie der Fall Scharping das Tempo im Karussell Berlin erhöht hat. Als Özdemir vor die Presse trat, weren die Recherchen der Bild am Sonntag zur privaten Nutzung von dienstlich erworbenen Bonusmeilen noch nicht publik. So schreibt der Medienstar ein wenig Mediengeschichte: Sein Rücktritt kam schneller als die Anklage.

PATRIK SCHWARZ

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Multikulti-Aushängeschild

BERLIN taz ■ Seiner Bedeutung für die grüne Partei war sich Cem Özdemir bis zuletzt bewusst. Kaum hatte er gestern seinen Rücktritt verkündet, da schob der 36-Jährige nach: „Als erster türkischstämmiger Abgeordneter“ habe er dem Bundestag seit 1994 angehört. Dass er daneben innenpolitischer Sprecher der Fraktion war, erwähnte er eher beiläufig, vielleicht auch deshalb, weil er als solcher in den vergangenen Jahren weniger von sich Reden gemacht hatte.

Seine parteiübergreifende Popularität verdankte der 1965 im baden-württembergischen Bad Urach als Sohn türkischer Einwanderer geborene „anatolische Schwabe“ (Özdemir ) mehr seiner interkulturellen Existenz. Diese setzte er ein, wenn es darum ging, für urgrüne Forderungen wie die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts oder ein neues Zuwanderungsgesetz zu werben: Özdemir, der lebendige Beweis, dass Gastarbeiterkinder der dritten Generation es in Deutschland zu etwas bringen können.

Dieser Ruhm, so urteilen heute seine Kritiker, sei dem Mann, der von der sozialpädagogischen Fakultät direkt in den Bundestag einzog, zu Kopf gestiegen. Nach dem Regierungsumzug nach Berlin lebte Özdemir zusehends auf größerem Fuß: Die Neuköllner Dachgeschosswohnung war nicht mehr gut genug, die Hundescheiße im Stadtteil mit dem hohen Anteil türkischer Bevölkerung widerte ihn an, wenn er ausging. Anstatt sich mit Gesetzestexten herumzuschlagen, zog Özdemir es vor, als Multikulti-Aushängeschild der Grünen in Talkshows zu brillieren.

Dabei hatte Özdemir, der seit Jahren unter Personenschutz steht, weil ihn deutsche Rechtsradikale in die Nähe der türkischen Staatsführung rückten und diese wiederum ihn in türkischen Medien als Landesverräter darstellen ließ, immer betont, kein ausgewiesener Türkeiexperte qua Herkunft zu sein. Verschiedene türkische Vereine kreideten ihm dennoch an, sich nicht genug für sie einzusetzen. Özdemir, so der Vorwurf, setze sich für ihre Interessen nur ein, solange sie ihm nützlich seien. Als es dagegen etwa um die Frage des Doppelpasses ging, sei Özdemir lediglich von sich ausgegangen: ein Pass reiche völlig, stieß er vor allem die erste Einwanderergeneration vor den Kopf.

Im Juni 1999 forderte Özdemir in einem Positionspapier zusammen mit anderen jüngeren grünen Funktionsträgern eine radikale Erneuerung der Partei. Mit den Ritualen der alternativen Bewegung sei endlich Schluss zu machen. Die Grünen seien eine Partei wie andere auch. Dass dem so ist, hat Özdemir nachhaltig bewiesen. HEIKE HAARHOFF

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Gute Chancen für Winnie Hermann

BERLIN taz ■ Wenn, ja wenn. Wenn der grüne Haushaltsexperte Oswald Metzger für den achten Listenplatz in Baden-Württemberg kandidiert hätte, säße er wohl auch im nächsten Bundestag. Denn Petra Selg wird für Cem Özdemir nachgerücken – und Metzger hätte ihren siebten Platz geerbt, der als relativ sicher gilt.

Ja, wenn. Aber der 47-Jährige hatte keine Lust, sich für den scheinbar aussichtslosen Listenplatz zu bewerben: Er wolle sich nicht „abspeisen“ lassen. Schließlich sitzt er seit 1994 im Bundestag, ist als Haushaltsexperte bundesweit bekannt. „Irgendwo gibt es ja auch so etwas wie einen Stolz.“

Und mit seinem Stolz ließ sich nicht vereinbaren, dass sich die Südwest-Grünen in zwei Kampfabstimmungen lieber für Fritz Kuhn und Cem Özdemir entschieden hatten. Also verzichtete Metzger auf jeden Listenplatz, damals im April. Seither peilt er eine Karriere in der Wirtschaft an.

Und er dürfte gute Chancen haben: Er ist ein Talent. Obwohl er nie ein wichtiges Parteiamt innehatte, schaffte es Metzger wie kein anderer Abgeordneter, sich in die Schlagzeilen zu katapultieren. So brachte er Exverteidigungsminister Scharping immer wieder in die Klemme, als es um die Beschaffung des Militärtransporters Airbus A 400 M ging. Und Metzger hatte Recht: Das Flugzeug ist unsauber finanziert. Daher dürfte Scharpings Nachfolger Struck durchaus dankbar sein, dass Metzger nicht mehr nach Berlin zurück kehrt.

Der zweite Kandidat für Dankbarkeit heißt Winnie Hermann. Weil Metzger nicht antrat, wird er wohl in den Bundestag rutschen. Der 50-jährige Gymnasiallehrer für Politik und Deutsch ist einer der letzten Pazifisten. Das ist schon ironisch: Ausgerechnet der Realo-Verband Baden-Württemberg wird nun dafür sorgen, dass die grünen Linken im Parlament nicht ganz so zusammenschrumpfen.

Noch bis gestern sah es so aus, als wäre der Bundestag nur eine vierjährige Episode für Hermann. Doch nun werden Szenen der grünen Regierungsschizophrenie denkbar, die man schon für vergangen hielt: Hermann, der gegen Bundeswehreinsätze stimmt, die sein „Parteifreund“ und Außenminister Fischer gerade befürwortet hat. Oder der gegen US-Präsidenten Bush demonstriert, während Fischer die Hand des Gastes schüttelt.

Aber vielleicht kommt es zu solchen Regierungsszenen gar nicht. Zumindest Metzger verkündete kürzlich, dass er nach der Wahl mit einer großen Koalition rechnet. Dann hätte er ja nur vier Jahre Opposition verpasst.

ULRIKE HERRMANN

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