piwik no script img

Immer fremd zu bleiben

Die italienische Philosophin Donatella die Cesare denkt in ihrer „Philosophie der Migration“ über eine Ethik des Wanderns als Voraussetzung für das globale Zusammenleben nach

Gastfreundschaft: ein grünes Licht für Mi­gran­­t:in­nen auf der Suche nach Hilfe Foto: Jakib Kaminski/Eastnews/imago

Von Micha Brumlik

Die Debatten über einen Mietendeckel haben erneut auf das Problem des Wohnens aufmerksam gemacht; ein Problem, das schon Friedrich Engels als eine der sozialpolitisch brennendsten Fragen identifizierte. War doch das menschliche Wohnen allemal Thema von Dichtung und Philosophie, wovon etwa eine Zeile Hölderlins kündet: „Dichterisch wohnet der Mensch.“

Auch die deutsche Nachkriegsphilosophie war davon umgetrieben: So fand Adorno im „Jargon der Eigentlichkeit“ Heideggers Überlegungen zu „Bauen, Wohnen, Denken“ aus dem Jahre 1951 zynisch, solange noch Wohnungsnot in deutschen Städten herrschte. Und so ist Wohnen noch immer ein philosophisches Thema, ein Thema, dem Donatella di Cesare – sie lehrt Philosophie in Rom – eine bahnbrechende Monografie gewidmet hat: „Philosophie der Migration“.

Denn: Menschen wohnen nicht nur; bevor sie wohnen, das heißt auf bestimmte Dauer an einem Ort bleiben, wandern sie zu diesem Ort und werden dort heimisch oder nicht. Man mag diese Menschen weit gefasst als „Migranten“ bezeichnen, indes: hinter diesem Oberbegriff verbergen sich die Begriffe von Flüchtlingen, Exilanten, Emigranten, Remigranten sowie Reisenden und Nomaden und eben „Wirtschaftsflüchtlingen“. Nicht zuletzt dieser Begriff dient Di Cesare zum Beweis dafür, dass die gern getroffene Unterscheidung von Wirtschaftsflüchtlingen und politisch Verfolgten nicht trägt: impliziert sie doch, dass die Verarmung ganzer Kontinente keine politischen Ursachen habe.

Donatella Di Cesare: „Philosophie der Migration“. Aus dem Italienischen von Daniel Creutz. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 343 S., 26 Euro

Blickt man tiefer, so kommt man auf den nicht nur von dem Philosophen Georg Simmel entfalteten Begriff des „Fremden“, sondern eben auf den – oft genug verächtlich so genannten – „Migranten“, der in der Weltgesellschaft der seiner Sakralität beraubte Heimatlose ist: „Als nackter Überrest des Fremden“, so Di Cesare, „hat der Migrant den Bezug auf das Anderswo verloren und findet deshalb auch keinen Zugang mehr zum Hier. Im beispiellosen globalen Kampf um einen Platz ist er deplatziert und ortlos. Seine schlichte Präsenz kann seine Existenz nicht rechtfertigen.“

Dabei geht es Di Cesare gerade nicht – wie der analytischen Philosophie – darum, Kriterien zu entwickeln, welche und wie viele „Migranten“ in einem Territorialstaat aufgenommen werden können. Nein: Im Blick auf jene Kulturen, die den Westen geformt haben, die Demokratie des antiken Athens, die staatliche Verfassung des Imperium Romanum sowie die Wanderungserzählungen des biblischen Israels, zeigt sie, dass schon in der Antike das Prinzip der „Autochthonie“ nicht unumstritten war, mehr noch, dass das römische Imperium in der Aufnahme Fremder progressiver war als das demokratische Athen.

Mit Blick auf das biblische Israel kommt sie deshalb zu dem Schluss, dass eine Ethik des Wanderns die Voraussetzung aller politischen Ethik war: von Platon und Aristoteles bis hin zu Kants widersprüchlichen Überlegungen zu einem „Weltbürgerrecht“, das dauernde Niederlassungen nicht vorsieht.

Der Hebräischen Bibel entnimmt sie das Prinzip, das demnach Grundlage aller Ethik sein sollte: „Einen Fremdling sollst du nicht bedrängen […], seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten“, wie es im biblischen Buch Exodus 23,9 heißt. Daraus schließt sie, dass „fremd sein“ und „Wohnen“ dialektisch aufeinander verwiesen sind: „Wenn der Fremde auch immer ein Wohnender ist, bleibt der Einwohner umgekehrt auch stets ein Fremder. Wohnen heißt, fremd zu bleiben.“

„Als nackter Überrest des Fremden“, so Di Cesare, „hat der Migrant den Bezug auf das Anderswo verloren und findet deshalb auch keinen Zugang mehr zum Hier

Im Nachwort zur deutschen Ausgabe – das Buch wurde während der Migrationskrise des Jahres 2015 geschrieben – plädiert sie für eine Transformation des europäischen Gedankens: Und das nicht nur, „weil sich die geoökonomischen und geopolitischen Bedingungen geändert haben, sondern weil jenes Projekt im Namen der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität und der Gastfreundschaft neu zu lancieren und zu aktualisieren ist.“

Wenn man so will, ist dies ein philosophischer Nachruf auf Angela Merkel.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen