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Im Wunderland der Zahlen

■ Jacques Roubaud setzt die Geschichte der schönen Hortense fort

In jeder Geschichte gibt es eine andere Geschichte, die nämlich, die der Geschichte vorausgeht, und deshalb ist es auch so schwierig, Geschichten zu erzählen“, schreibt am Beginn seines neuen Romans der französische Schriftsteller Jacques Roubaud. Dessen Geschichten — wir wissen es seit seiner Schönen Hortense — sind Geschichten von Geschichten, und sie spielen (nicht zuletzt) mit den Möglichkeiten und den Schwierigkeiten des Erzählens. Der Roman Entführung der schönen Hortense, der jetzt auf Deutsch, übersetzt von Eugen Helmlé, erschienen ist, setzt die Geschichte von der Schönen Hortense fort. Die Schöne Hortense ihrerseits war die Fortsetzung von Raymond Queneaus Roman Mein Freund Pierrot.

Pierrot hatte am Schluß des Romans, dessen Held er ist, seine Erinnerungen Revue passieren lassen und sich vorgestellt, „wie alle Elemente sich zu einem Abenteuer hätten verbinden können...“ Er sah den Roman, der daraus hätte entstehen können, einen Kriminalroman mit einem Verbrechen, einem Schuldigen und einem Detektiv.

Diesen Kriminalroman, bzw. dieses Romanpaar, hat Jacques Roubaud geschrieben, Mathematik-Professor in Paris und Mitglied der Gruppe „OuLiPo“ („Werkstatt für potentielle Literatur“), die von Raymond Queneau gegründet worden war. Das Personal der Entführung ist uns vertraut, wir kennen es aus Queneaus Roman und aus der Schönen Hortense. Alle sind sie wieder da: die Poldeven-Prinzen, das Pferd bzw. Pony, der Kater Alexander Wladimirowitsch, Monsieur und Madame Eusèbe, der alte Sinouls und seine Töchter Julie und Armance, Madame Yvonne, Madame Groichant, Inspektor Blognard, sein Assistent Arapède und natürlich Hortense, die schöne Philosophiestudentin. Nach dem merkwürdigen Fall, der als „Der Schrecken der Haushaltswarengeschäfte“ in die Kriminal- und Literaturgeschichte eingegangen war, ist wieder Ruhe im Viertel um Sainte-Gudule eingekehrt. Hortense hat Mr. Mornacier geheiratet, den Möchtegern-Romancier des ersten Romans, und Alexander Wladimirowitsch ist auch wieder aufgetaucht — unter falschem Namen allerdings, und mit gefärbtem Fell: Hotello nennt er sich jetzt, ein schwarzer Kater im Dienste der Poldeven (sein Verwandter, Othello der Mohr, in venezianischen Diensten, läßt grüßen!). Doch die Ruhe trügt. Sechs junge, identisch aussehende schöne Männer, sechs Poldeven-Prinzen in unterschiedlicher Verkleidung, leben seit einiger Zeit im Viertel. Zwei arbeiten in der Bar und der Konditorei, zwei sind Rocksänger, einer schreibt englische Romane.

Und dann, eines Tages, während die Mitternachtsglocken 33 mal schlagen, passiert ein Mord: das Opfer ist Balbastre, der Hund des Organisten Sinouls. Madame Eusèbe findet ihn am nächsten Morgen, kurz nach sechs Uhr, im sechsten Betstuhl von Saint-Gudule. Blognard wird mit der Aufklärung des Falls beauftragt. Ihm assistieren Arapède und She. Hol., ein Gastinspektor (und entfernter Verwandter eines berühmten englischen Detektivs). Schließlich wird Hortense entführt. Zwischen dem Mord an Balbastre und ihrer Entführung gibt es einen Zusammenhang. Aber welchen? — Der Fall ist — wie der erste — ziemlich knifflig...

Um diese komplizierte Geschichte zu erzählen, greift Roubaud wieder tief in seine oulipotistische Trickkiste. Und auch diesmal ist die wahre Heldin des Romans nicht Hortense: Heldin ist zum zweitenmal die schöne Ordnung der Mathematik! Die Entführung ist, wie sein älterer Zwilling, ein irritierendes Spiegelkabinett, ein Zahlenrätsel, ein ausgefuchstes mathematisches Vexierbild. Glenn Gould, der kanadische Pianist — um einen gattungsfremden Gewährsmann zu zitieren —, hat in seinen Essays immer wieder deutlich gemacht, wieviel die Faszination der Musik „der durch und durch künstlichen Konstruktion systematischen Denkens“ verdanke. — Wie in keinem anderen Fall trifft diese Feststellung auch auf die Romane Roubauds zu. Auf ausgepichte Art und Weise verschränken sich in der Entführung permutative und binäre Strukturen. So läßt Roubaud in den sechs mal sechs, also 36, Kapiteln seines Romans mit Hilfe eines ausgekühlten Rotationsverfahrens — einem „kosmischen spiraloiden heiligen kosmogonischen und schneckenförmigen Ballett“ —, seine sechs Poldeven jeweils sechsmal auftreten. (Wie überhaupt, nebenbei, die Zahl sechs eine zentrale Rolle spielt. Alle durch sechs teilbaren Kapitel sind von großer Bedeutung. Im 18. Kapitel gibt der Autor ein wichtiges Geheimnis preis, im 24. Kapitel begeht Hortense Ehebruch, und im 36. Kapitel wird der Täter überführt.) Die andere Struktur ist dualer Natur. Wieder bevölkern Paare, Zwillinge und Doppelgänger den Roman. Alle Kapitel sind zweigeteilt (mit zwei beziehungsreichen Ausnahmen: Kap. 1 und 35). Und wieder gibt es zahlreiche Symmetrien und Spiegelfechtereien, sowohl innerhalb der Geschichte als auch darüber hinaus — Geschichten, die mit dem ersten Roman korrespondieren . So führt Roubaud etwa seinen (verkappt erzähltheoretischen) Streit zwischen Autor und Erzähler fort, und wieder gibt es Sticheleien gegen seinen Lieblingsfeind, gegen Hortenses Philosophieprofessor Philibert Orsells (alias Philippe Sollers).

Alles, was man für des Rätsels Lösung brauche, sei im Roman enthalten, hatte Roubaud in der Schönene Hortense versprochen, und die Lösung könne der Leser selbst finden. An diesen Vorschlag hält sich auch Inspektor Blognard. Am Ende, in Kapitel 36, bevor er den Täter überführt, tritt er aus dem Roman, dessen handelnde Figur er ist, heraus und studiert das Manuskript der ersten 35 Kapitel von Roubauds Die Entführung der schönen Hortense. Plötzlich wird ihm klar, wer der Täter ist... Der verrät sich nämlich, soviel sei hier preisgegeben, weil er nicht sechs-, sondern siebenmal in Erscheinung tritt — und damit die schöne Ordnung des Erzählten stört.

P.S.: Bedauerlich an dem Vergnügen, das der Roman bereitet, ist eigentlich nur, daß es allein 333 Exklusivexemplare gibt, die mit einer schwarzen Box ausgestattet sind. Man hätte dem Verlag mehr Mut gewünscht, diese Box mit einem Vielfachen von 333 auch im Buchhandel zu verkaufen. Mit ihrem beigelegten Puzzle ist diese Box die Doppelgängerin der deutschen Erstausgabe von Georges Perecs Das Leben. Gebrauchsanweisung. Es soll Leute geben, die haben die Perec-Box zweimal. Ein Exemplar mit zerbrochenem Siegel und eins ohne. Norbert Wehr

Jacques Roubaud: Die Entführung der schönen Hortense. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Hanser-Verlag. 304 Seiten, 36 DM

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