Im Reich der Pausbacke

Gerhard Schröder wird heute 56 Jahre alt. Bericht über einen lebenden Toten

Wo Gerhard Schröder auftaucht, beginnt das Reich der lebenden Toten, weshalb sich der Mann auch gut als Nebendarsteller in einem Splattermovie macht. Das B-Picture lief vergangene Woche in Tiflis, wo Schröder zusammen mit Bild und dem Zombie Genscher den Dracula Georgiens, Edward Schewardnadse, besuchte, um ihm für dessen persönlichen Einsatz bei der deutschen Einheit zu gratulieren. Mit im Gepäck führte Schröder einen Maler, der in Tiflis gerade eine Ausstellung hatte und deshalb bei dieser Gelegenheit günstig mitfliegen konnte. Jörg Immendorff musste auch deshalb bei der Eröffnung dabei sein, damit er Schröder und Schewardnadse seine Bilder erklären konnte. Schröder möchte, dass Immendorff einmal das offizielle Kanzlerporträt anfertigt. Außerdem ist Schröder ein Liebhaber der modernen, zeitgenössischen Malerei, und als solcher hat er was auf einem Bild Immendorffs entdeckt: „Auf einem Bild habe ich Überreste der Mauer entdeckt. Eine doppelte Mahnung. Einmal der Hinweis: Die Mauer in Deutschland ist weg. Aber, weil da noch ein Stück zu sehen ist, die Mahnung: Die Mauer darf nie wieder kommen. Weder tatsächlich noch in den Köpfen und Herzen der Menschen.“

Schröders Expertise zeugt von manischer Fixierung auf das Thema Mauer. Gewagt und überraschend zugleich, wie hinter einem Stückchen Mauer plötzlich eine doppelte Mahnung herumwabert und Deutschland als Vorbild präsentiert wird, auf das die Welt angeblich wartet, das ihr vielmehr so langsam aus den Ohren kommen müsste. Die Mahnung verendet dann in der Phrase, die zwangsläufig kommen muss, wenn Schröder redet, denn nur auf dem Allgemeinplatz ist Schröder wirklich zu Hause.

„Es ist mir eine Herzensangelegenheit, heute hier zu Ihnen zu sprechen“; „diese Aufgabe ist eine große Herausforderung und verlangt Mut und Hilfsbereitschaft“; „lassen Sie uns eine sichere Grundlage für eine friedliche Zukunft unserer Völker legen“; „heute blicken wir nicht nur mit Stolz zurück, sondern auch mit Zuversicht nach vorn“; „Geist, Kultur und Sprache sind tragende Säulen einer Identität, die uns hilft, einander zu verstehen und ohne Überheblichkeit ,gern Deutsche zu sein‘ “; „dass das vereinte Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird, darauf dürfen wir an einem Tag wie dem heutigen ruhig auch etwas stolz sein“. Solche pausbäckigen Erkenntnisse bestimmen die Kunst der Sonntagsrede. Ein Metier, das Gerhard Schröder wie kein Zweiter beherrscht. Über was auch immer, Schröder kann ein Thema stundenlang weichklopfen, wie überhaupt die Existenzform des Politikers darin besteht, dauernd zu reden, ohne jedoch mitzuteilen, was er denkt – wenn er denkt. Schröders Jargon ist feucht von der „Prätention tiefen menschlichen Angerührtseins“ (Adorno) und setzt sich im Wesentlichen aus Horst-Eberhard-Richter-Vokabeln zusammen, das heißt, auch Schröder trägt „ein Stück weit“ zur „Vermehrung des rhetorischen Jahresmülls“ (Roger Willemsen) bei. Versucht Gerhard Schröder frei zu reden oder abweichend von seinem Manuskript inhaltlich etwas zu Stande zu bringen, geht es meistens schief. Das Holocaust-Mahnmal zum Beispiel hielt er für einen Ort, zu dem man „gerne hingehen können“ sollte, quasi als nettes Ausflugsziel für die ganze Familie, womit er nicht nur großes historisches Fingerspitzengefühl bewies, sondern sich auch als Familienpolitiker mit Herz profilierte.

Gerhard Schröder wird bisweilen unterstellt, es seien die Verlockungen der Macht gewesen, die ihn dazu veranlassten, an die Regierung zu drängen. Dieser Vorwurf, der moralisch als besonders verwerflich empfunden wird, ist unberechtigt, denn bei der Annahme, Politiker würden Macht ausüben, handelt es sich um einen weit verbreiteten Irrglauben. Kann sein, dass Schröder denkt, er hätte die Macht in Händen, in Wirklichkeit jedoch muss der „Machtbrocken“, als der er angesehen wird, ständig Rücksichten nehmen und die Empfindlichkeiten seiner Klientel, von Lobbyisten und Organisationen berücksichtigen. Fast also könnte man ein bisschen Mitleid haben mit Gerhard Schröder, der als Wiener Würstchen der Politik sogar auf seine Zigarre als Insignie der Macht verzichten muss, um stattdessen mit weichgespültem Gutmenschensprech ein Beispiel dafür abzugeben, dass die Menschwerdung des Banalen mit ihm vollendet wurde. KLAUS BITTERMANN