piwik no script img

Im Pappkarton, ganz unten

■ Von einem, der auszog, sich selbst zu verlieren: Lee Stringer liest in der Kulturbrauerei aus seinem Roman „Grand Central Winter“

Von einem, der auszog, sich selbst zu verlieren und dann doch noch die Kurve kratzt: Davon handelt die autobiografische Geschichte des ehemaligen Cracksüchtigen und Obdachlosen Lee Stringer. „Ein Blick in die Eingeweide New Yorks“ sei es, behauptet die New York Times, die es ja schließlich wissen muss. Durch die Eingeweide der großen Stadt windet sich der Ich-Erzähler in beiläufigem und trotzdem sehr persönlichem Plauderton, erzählt ohne Selbstmitleid von seinem Absturz, Saufen, Arbeitslosigkeit, Crack, schließlich dem Aufprall auf der Straße.

„Wo gibt's was zu rauchen?“ und „wo krieg ich neue Schuhe her?“, diese Fragen muss er jetzt klären. Es sind im Jack-London-Sinne Abenteuer, die Stringer zu überstehen hat. Nur spielen sie nicht unter Trappern und Hobos, sondern in der dreckigsten Ecke des New Yorker Grand Central Bahnhofs, in vollgepissten Pappkartons und verwahrlosten Appartements. Stringer erzählt eine humorvolle und bittere Geschichte von seinen Annäherungsversuchen an das Obdachlosenmagazin Street Life, seinen Erfolgen als Redakteur und Kolumnist und den Fehl- und Rückschlägen in Drogensucht und Chaos.

So viel „ganz unten“ fasziniert, so viel schmutzige Details vom Scheitern ziehen jeden warm angezogenen Bürger in ihren Bann, aber Stringer schafft es, die gleichzeit angeekelten und gefesselten Leser auf seine Seite zu schubsen, bei ihnen echtes Verständnis für seine Situation zu wecken, ohne den Reiz des Schrecklichen allzu sehr ausznutzen. Im Gegenteil, er heroisiert nicht und diffamiert nicht, er sagt nur, was los war mit ihm, was ihn umgetrieben hat während der chaotischen Jahre – Anfang der 80er bis Mitte der 90er – auf der Straße. Sogar seine Drogensucht und die damit verbundenen finanziellen Schwierigkeiten kommen trotz aller Brisanz daher wie die College-Erfahrungen eines Farmjungen.

Spannend ist es trotzdem. Man kann es sich in einem Atemzug reinziehen (um beim Thema zu bleiben), und auch wenn nicht alle cracksüchtigen Penner am Bahnhof heimliche Schriftsteller und Poeten sind, die aus zu viel Sensibilität an der Welt scheiterten: Stringer ist jedenfalls ein grandioser Geschichtenerzähler. Er arbeitet übrigens gerade an seinem dritten Buch. Sein letztes hat er zusammen mit Kurt Vonnegut geschrieben. Stringers Essays und Kolumnen sind außer im Street Life in der New York Times und in Newsweek veröffentlicht worden. Jenni Zylka

Lee Stringer liest heute um 20 Uhr in der Kulturbrauerei, Knaackstraße 97

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen