: Im Land der verwüsteten Seelen
Das Böse und seine Repräsentanten: Im Rahmen der Kroatischen Kulturwochen gastieren Branko Brezovec und sein Zagreber Jugendtheater ZeKaeM in Berlin. Die Aufführung von „Der Großmeister aller Schurken“ glaubt noch an das politische Theater
von DIRK PILZ
Der Anfang ist trügerisch: Da sitzt einer im Sessel und denkt nach. „Was habe ich“, so fragt er in akzentreichem Deutsch, „mit dem Krieg zu tun? Nichts.“ Der Krieg ist gerade überstanden, Ljubo Kraljevic (Vili Matula) lässt er nicht ruhen: Unschuldig am Kriegsgemetzel, fühlt er sich dennoch verantwortlich. Um den Ort seiner Verantwortung zu finden, sucht er nach Erklärung, Sinn und Zusammenhang des Gewesenen. Die Suche reißt ihn und uns in einen zweistündigen Strudel. Am Ende wird er wieder ausgespuckt: Verlacht und verzweifelt hat der Sinnsucher keine Antwort gefunden, aber die Geister der Vergangenheit im Veitstanz mit den Dämonen der Zukunft getroffen.
Schwer zu sagen, was hier zu erleben war. Vielleicht die Theater gewordene Apokalypse, vielleicht das in Szenen gegossene Grauen, in jedem Fall ein Bühnenungeheuer, das Zuschauer und Darsteller in ein Gewitter des Schreckens stürzte. Die Verwirrung war groß, manche aus dem nur spärlich versammelten Publikum verließen entsetzt das Haus der Berliner Festspiele, andere retteten sich in Gelächter, die meisten saßen starr bei einer Inszenierung, die sprachlos vor Wucht und Wahnsinn machte.
Die Kroatischen Kulturwochen, noch bis Ende November hauptsächlich im Podewil mit Lesungen, Gastspielen und Diskussionen zu erleben, haben den 1955 geborenen Branko Brezovec und sein Zagreber Jugendtheater ZeKaeM nach Berlin geholt. Essenz dieses verstörenden Abends: Die Geschichte zeigt sich als Konstrukt von Paradoxa. Was sie hinterlässt, ist – um es mit Walter Benjamin zu sagen – „Krisenmaterial“.
Die Vorlage des Abends gibt eine Novelle von Miroslav Krleza aus dem Jahr 1919 ab. Er beschrieb seinerzeit den Zerfall der Donaumonarchie und die Folgen des Ersten Weltkrieges. Vieles davon scheint sich heute zu wiederholen, weshalb Brezovec die Parallelen zur Gegenwart nicht zu betonen braucht. Kroatien hat wieder einen Krieg hinter sich. Die verwüsteten Seelen, Städte und Landschaften gleichen sich. Ohne die Differenzen zu verwischen, entdeckt der Abend eine historische Konstante. Man kann sie mit Emile Cioran benennen: „Der Mensch schwitzt Unheil aus.“
Das Unheil verkörpert bei Krleza der so genannte Großmeister aller Schurken: Chef eines international agierenden Beerdigungsinstituts. Auf der Suche nach der unbekannten Macht, die den Kriegsmechanismus am Laufen hält, entdeckt die Hauptfigur Ljubo Kraljevic in ihm den Repräsentanten des Bösen. Er stellt den Großschurken zur Rede, dieser antwortet mit diabolischem Grinsen. Der Leichenboss zeigt seine tödliche Fratze, und der Gutmensch Kraljevic zerschellt an ihm. Was auf der Bühne zu erleben ist, sind die Scherben dieses Scheiterns, gebannt in wahnwitzige Bilder und Szenen.
Da schleicht eine nackte Blonde um die Kirchenfassade, während drei Männer mit Gasmasken aus den Fenstern winken; da werden kleine Guckkastenbühnen über einen Steg gezogen, die alle eine Hölle am Küchentisch zeigen. Maskenmänner tanzen, vor einem Werbeplakat liegen griechische Frauen. Ein Blinder rollt im Sarg über die Bühne, später segeln Särge aus dem Schnürboden. Eine Frau ist an ihr Bett genagelt, bei einer anderen sind drei Brüste zu entdecken. Ein dreistöckiger Stahlturm schiebt sich an die Rampe, oben wird eine Sekretärin vergewaltigt, unten trinken die Männer Bier. Es wird gesungen, getanzt, skandiert und im Gänsemarsch abgetreten. Drei Schäferhunde bellen in Käfigen, ein Mann irrt schießend durch die Menge. Ständig ist die Bühne im Umbau, spricht jemand Kroatisch, Deutsch oder gänzlich unverständlich. Dutzende von Darstellern sind immer in Bewegung, Ruhe will nicht einkehren.
Kaum zu verkennen: Der Abend steht unter expressionistischem Einfluss, die Bühne befindet sich im Zustand der Epilepsie. Das Chaos aber hat System: Alles strudelt auf ein Finale zu, das den Menschen als Opfer seiner selbst entlarvt. Dem deutschen Zuschauer kommt dieses Theater einigermaßen befremdlich vor. Wir haben uns daran gewöhnt, die großen Fragen allenfalls mit Ironie zu verhandeln. Branko Brezovec aber rettet sich nicht in die sichere Distanz des Ironischen, seine Haltung ist Ernsthaftigkeit. Im kroatischen Theater fällt die Truppe damit weniger aus dem Rahmen als hierzulande. Die Bühne als Instrument verbissener Sinnsuche hat Tradition im Kroatien nach dem Zerfall Jugoslawiens. Das liegt nicht nur an der konkreten politischen Situation vor Ort. Es liegt vor allem daran, dass man dort noch an ein politisches Theater glaubt: Der Mensch schwitzt Ungeheuer aus. Aber muss es so bleiben?
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