crime scene : Im „Hammett“
Zuerst ist man als Krimileser mit jeder größeren Buchhandlung zufrieden. Hier wird man zuverlässig mit den neuen Wälzern von Elizabeth George und Val McDermid, von Tom Clancy oder Patricia Cornwell versorgt. Früher oder später bedarf es jedoch professioneller Hilfe. Dankbarerweise gibt es in Deutschland ein knappes Dutzend Buchhandlungen wie das „Alibi“ in Köln oder das „Undercover“ in Stuttgart, die sich auf Krimis spezialisiert haben.
In Berlin geht man ins „Hammett“. Auf den ersten Blick hat der kleine Laden in Kreuzberg den Charme des Schallplattengeschäftes, das Nick Hornby in „High Fidelity“ beschreibt: ein Ort für Eingeweihte. Hier stellt man besser keine dummen Fragen, sondern arbeitet erst einmal die lange Liste der wichtigen Veröffentlichungen nach, die man bisher verpasst hat. Praktischerweise werden unter www.hammett-krimis.de verschiedene Top-Ten-Listen geführt, die den Nachholbedarf schnell vor Augen führen. Wer Daniel Pennacs „Paradies der Ungeheuer“ nicht gelesen hat oder mit Alexander McCall Smiths’ „Dunkler Zauber“ nichts anfangen kann, braucht im „Hammett“ gar nicht erst nach Neuerscheinungen zu fragen, sondern kann mit diesen Romanen anfangen, die im vergangenen Jahr zu den zehn bestverkauften Titeln gehörten.
Während man einen gewissen Hang zum Masochismus pflegen muss, um einen Besuch in einem kleineren Plattenladen mitsamt den murrenden Unverschämtheiten der schlecht gelaunten Verkäufer genießen zu können, wird man im „Hammett“ allerdings auch als Nicht-ganz-so-gut-Bescheidwisser überraschend zuvorkommend behandelt. Sicher, die unvorsichtige Bemerkung, dass man mit Ian Rankins Romanen rund um diesen schottischen Polizisten bisher nicht richtig klar gekommen sei, führt zu einem kurzen, irritierten Schweigen. Anschließend bekommt man aber eine freundliche Einführung in die John-Rebus-Reihe und den Rat, es zunächst mit „Verborgene Muster“ zu probieren, dem ersten Band der Reihe – anstatt einfach in der Mitte einzusteigen und sich zu wundern, dass man die meisten Anspielungen auf die Vergangenheit der Hauptfigur nicht versteht. Yes, Sir!
Nicht alle Empfehlungen sind hier so einfach zu haben. Christian Koch, der seit fünf Jahren das „Hammett“ führt und früher in der Nähe von Hannover Zäune gebaut hat, würde etwa Derek Raymonds Roman „Roter Nebel“ „nicht jedem empfehlen“. Zu dunkel, zu selbstzerstörerisch, erklärt er mit einem unmerklichen Kopfschütteln. Am Ende des Gespräches würde man einiges dafür geben, um wenigstens für die Länge von hundert Taschenbuchseiten zu der kleinen Gruppe der hard boiled addicts zu gehören, denen Koch persönliche Tipps gibt. Nichts zu machen.
Darum tröstet man sich mit einem anderen Titel, der im „Hammett“ zur Zeit jedem Kunden ans Herz gelegt wird. „Ich habe keine Angst“ ist ein Roman des italienischen Schriftstellers Niccolò Ammaniti, der vergangenes Jahr schon einmal unter dem Titel „Die Herren des Hügels“ in deutscher Übersetzung erschienen ist und ein wenig an Michael Frayns hoch gelobtes „Spionagespiel“ erinnert. Während eines heißen Sommers stößt der neunjährige Michele am Rand eines süditalienischen Dorfes auf einen verwahrlosten Jungen, der in einem Erdloch gefangen gehalten wird. Offenbar ist er das Opfer einer Entführung. Michele glaubt, dass seine Eltern in das Verbrechen verstrickt sind, und seine kleine, überschaubare Welt bekommt bald immer mehr Risse.
„Ich habe keine Angst“ ist ein einfach erzähltes, aber gerade darum äußerst beklemmendes Buch über das Ende einer Kindheit. Unter den „Hammett“-Kunden muss man es natürlich niemandem mehr empfehlen. Auf der aktuellen Topten-Liste steht es bereits auf Platz 1. Als Neueinstieg. KOLJA MENSING
Niccolò Ammaniti: „Ich habe keine Angst“. Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann. Goldmann, München 2004, 252 Seiten, 7,95 Euro