Illegaler Waffenexport nach Mexiko: Heikle Beute
In der mexikanischen Provinz stürmen Bürger ein Rathaus. Sie entdecken dabei Gewehre der deutschen Firma Heckler & Koch, die dort nicht sein dürften.
TIXTLA taz | Gonzalo Molina muss noch einmal los. Es ist dringend, unten im Stadtzentrum sind die Leute sehr besorgt. Seit der Tropensturm „Manuel“ den vielen Regen gebracht hat, steht Tixtla unter Wasser. Einige Wochen ist das schon her, doch die Bewohner müssen sich noch immer durch eine meterhohe stinkende Brühe kämpfen. Manche stehen im Schlamm vor ihren Häusern und bewachen Kühlschrank, Waschmaschine und anderen Hausrat.
Denn die Diebe der Mafia nutzen das Chaos und gehen auf Raubzug. Also fährt Gonzalo Molina mit seinem Kollegen David Chanita zu einer Familie, die um Hilfe bat. Wer, wenn nicht die selbst organisierte Gemeindepolizei, sollte die Menschen im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero vor den Kriminellen schützen?
Die Jagdgewehre geschultert, in ihren durchschwitzten olivgrünen T-Shirts mit dem Logo der „Policia Comunitaria“, kehren Molina und Chanita bald zurück. Hier im Hauptquartier, wie Molina den Unterstand am Rande eines Basketballplatzes nennt, haben sich die autonomen Polizisten oberhalb des Stadtzentrums eingenistet. Eine schwarze Plane schützt vor der stechenden Sonne, eine quer gelegte Kabelrolle aus Holz dient als Tisch, auf der Feuerstelle köchelt der Kaffee. „Früher haben sich die Kriminellen wegen des Drogenanbaus untereinander bekämpft. Inzwischen fordern sie Schutzgeld von Händlern und entführen unsere Kinder, um Lösegeld zu kassieren“, erklärt der Familienvater.
Den lokalen politischen Amtsinhabern und der Polizei traut hier niemand. Jeder weiß: Bürgermeister, Beamte und Sicherheitskräfte arbeiten meist eng mit der Mafia zusammen. Deshalb haben sich Molina und seine Leute vor einem Jahr bewaffnet, so wie es derzeit viele in Mexiko tun. Etwa 200 Männer und Frauen sind in der örtlichen Gruppe organisiert.
„Alles, was wir machen, ist völlig legal.“ Das betont der 48-jährige Molina gleich mehrfach und verweist auf die mexikanische Verfassung. Tatsächlich werden manche Selbstverteidigungsgruppen sogar von der Landesregierung toleriert, weil die Politik die Verbrechen nicht in den Griff bekommt und den korrupten lokalen Beamten misstraut. Anders in Tixtla. Molina blickt nervös von links nach rechts. In der Kleinstadt ist die Stimmung angespannt, seit die Gemeindepolizisten am 26. August ein paar Stunden lang das Rathaus besetzt hielten. Und jetzt, drei Monate später, hat Molina erfahren, dass sogar ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wurde.
Sturm aufs Rathaus
„Erst haben wir nur demonstriert, weil einige Compañeros verhaftet wurden“, erinnert er sich. Doch dann eskaliert die Lage: Städtische Polizisten zielen mit Sturmgewehren auf die Protestierenden, es folgen Prügeleien. Plötzlich entwaffnen Molinas Leute die Beamten und stürmen das Rathaus. Wenig später ziehen sie wieder ab. Als Beute nehmen sie fünf schwere Waffen mit, die sie den Sicherheitskräften abgenommen haben, darunter zwei Sturmgewehre G36 der deutschen Rüstungsschmiede Heckler & Koch, die gemäß der Exportgenehmigung nie in die Provinz Guerrero hätten gelangen dürfen.
2005 bis 2007: Die Firma Heckler & Koch (H & K) erhält eine Genehmigung für den Export von 9.652 G36-Gewehren nach Mexiko. Es gibt eine Menschenrechtsklausel, wonach die Waffen nicht in die Bundesstaaten Guerrero, Chihuahua, Jalisco und Chiapas gelangen dürfen.
2010: Der Rüstungsgegner Jürgen Grässlin stellt Anzeige gegen H & K, weil die Gewehre in die „verbotenen“ Regionen geliefert worden seien.
2010: Das ARD-Magazin „Report Mainz“ berichtet von G36-Schulungen in Jalisco.
2012: Die taz erhält Fotos, die nach Expertenmeinung G36-Gewehre in Guerrero zeigen. H & K erklärt, das Unternehmen halte sich an Recht und Gesetz.
April 2013: H & K kündigt zwei MitarbeiterInnen, weil sie für den Mexiko-Deal verantwortlich sein sollen.
November 2013: Fotos der taz zeigen Gewehre mit Seriennummer, die in Guerrero zum Einsatz kommen.
3. Dezember 2013: Das Arbeitsgericht Villingen/Schwenningen verhandelt über die Kündigungen der beiden H & K-Mitarbeiter.
Der städtische Sicherheitsbeauftragte, Rubén Reyes Cepeda, gibt nach der Besetzung freimütig in der Presse zu: „Wir besitzen elf G36-Gewehre in verschiedenen Ausführungen.“ Auch Polizisten, die später vor dem Rathaus Wache schieben, tragen die Waffe aus dem baden-württembergischen Oberndorf.
Dass die Stuttgarter Staatsanwaltschaft gegen die Firma Heckler & Koch wegen illegaler Rüstungsexporte ermittelt – darüber weiß Gonzalo Molina wenig: „Man sagt, die G36 seien verboten, aber die tragen hier doch alle.“ In der Landeshauptstadt Chilpancingo habe er Beamte mit der Waffe gesehen, in anderen Regionen hätten Compañeros solche Gewehre beschlagnahmt. Sorgen macht er sich darüber, wer sie sonst noch haben könnte: „Wenn die Regierung sie hat, dann auch die Mafia.“ Mexikanische Medienberichte geben ihm recht: Bei Durchsuchungen in Wohnungen von korrupten Polizisten und Killern der organisierten Kriminalität taucht immer wieder das G36 auf.
Molina wirft einen Blick auf die angrenzenden Häuser und rückt seine Kappe zurecht. Seine Stimme wird leiser. Die Waffen seien mit den ebenfalls „beschlagnahmten“ US-amerikanischen AR15-Gewehren hier in der Nähe aufbewahrt, sagt er. Mehr will er nicht sagen. „Wir wollen diese gefährlichen Schusswaffen gar nicht haben und würden sie auch zurückzugeben, wenn die widerrechtlich verhafteten Gemeindepolizisten wieder freigelassen werden.“ Das Thema ist Molina unangenehm, in den Medien gab es kritische Berichte, dass die Gemeindepolizei nun angeblich mit Nato-Waffen schießt. Dann klingelt das Handy. Molina und Chanita schnappen ihre Flinten, springen in den schwarzen Geländewagen und fahren los.
Zwei Stunden später geht beim Menschenrechtszentrum im nahe gelegenen Chilpancingo ein Anruf ein: Die beiden Männer sind an einer Kontrollstelle festgenommen worden. Die Nachricht macht schnell die Runde. Schon am späten Nachmittag sammeln sich Freiwillige der Gemeindepolizei, Angehörige und andere Aktivisten im Hauptquartier in Tixtla. Junge Männer stehen in ihren schlichten Uniformen in der Abendsonne. Einige tragen Jagdgewehre, andere haben die G36 aus dem Versteck geholt und zeigen mit ein wenig Stolz auf die Prägung: „HK G36C, Kal. 5,56 mm x 45“. Aufgeregt laufen sie zwischen ein paar Mädchen hin und her, die Basketball spielen. Was tun? Werden Molina und Chanita wieder freigelassen?
Zwei tote Studenten
Mittlerweile sind auch etwa 200 Studenten der Pädagogischen Hochschule Ayotzinapa eingetroffen. Das Internatsgelände am Stadtrand von Tixtla gilt Gegnern als linke Kaderschmiede. Che, Subkommandant Marcos, sogar Lenin prangen an den Hauswänden. Söhne aus einfachen Familien lernen hier, um später in den Dörfern der Region zu unterrichten. Regelmäßig legen sie sich mit den Mächtigen an. So auch am 12. Dezember 2011. An diesem Tag blockieren sie die Autobahn in Chilpancingo, um gegen den dauernden Unterrichtsausfall zu demonstrieren. Bundes- und Landespolizisten rücken an. Beamte feuern Tränengasgranaten. Steine fliegen, Schüsse fallen. Zwei Studenten bleiben tot auf der Straße liegen. „Das war kein Unfall, sondern Absicht“, ist der Lehreranwärter Ali Perez Bravo überzeugt.
Auch bei diesem Einsatz tragen Beamte G36-Gewehre. Das bestätigen Anwälte und Journalisten der regionalen Tageszeitung El Sur. Wie Perez Bravo war der Fotograf Eric Chavelas vor Ort. Nun sitzt er in der Redaktion und scrollt über den Bildschirm. „Hier“, sagt er und zeigt auf eine Aufnahme, „das ist doch die deutsche Waffe.“ Bis heute ist nicht ausgeschlossen, dass die Studenten mit den Sturmgewehren getötet wurden. Denn wie in 98 Prozent solcher Fälle in Mexiko wird ein Verbrechen nicht konsequent strafrechtlich verfolgt.
Der Vermittler schweigt
Wie aber kam es dazu, dass die Gewehre illegal in die Provinz Guerrero gelangt sind? Die Firma Heckler & Koch habe sich immer an das Gesetz gehalten, lautet die Standardantwort aus Oberndorf. Für Aufklärung könnte deren ehemaliger Mitarbeiter Markus Bantle sorgen. Seit 25 Jahren lebt der Deutsche in Mexiko, weit draußen, im Norden der Hauptstadt, ist er bei der in Waffengeschäfte verstrickten Firma Lamar tätig. Auch er äußert sich zurückhaltend: „Für mich ist da Sendepause, ich will über das Geschäft lieber nicht mehr reden.“ Bei dem Deal zwischen den Waffenbauern und dem Einkäufer, dem mexikanischen Verteidigungsministerium, habe er nur vermittelt.
Ob ein General, wie es in den Ermittlungsakten der Stuttgarter Staatsanwaltschaft heißt, tatsächlich Schmiergeld bekommen hat, damit genügend Gewehre geliefert werden? Ob seine Firma wusste, dass die G36 in Regionen geraten, die explizit von der Exportgenehmigung ausgeschlossen waren? Bantle wird einsilbig: „Schweigepflicht“.
Im fünf Busstunden entfernten Tixtla ist es inzwischen Abend geworden. Die autonomen Gemeindepolizisten, die Angehörigen und die Studenten sind noch immer im Unterstand und beraten. Sollte man die Gewehre zurückgeben? Der Bürgermeister, der die Anzeige gestellt hat, sei zu Gesprächen bereit. Trotzdem: Irgendwas muss passieren. Jetzt! Und so ziehen gegen Mitternacht mehrere hundert Bauern und vermummte Jugendliche vor das mit Stacheldraht und Mauern gesicherte Gefängnis der Provinzhauptstadt Chilpancingo. Ihre Waffen lassen sie im Hauptquartier, Holzprügel nehmen sie sicherheitshalber mit. Die Nacht bleibt ruhig.
Wenige Tage später befindet sich der Jugendliche David Chanita wieder auf freiem Fuß, Gonzalo Molina hingegen wird in ein Hochsicherheitsgefängnis im zehn Autostunden entfernten Oaxaca verlegt. Es sieht schlecht aus für ihn. Der Bürgermeister bleibt bei seiner Anzeige, unabhängig von der Rückgabe der Waffen. Nun liegt der Fall bei der Generalstaatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt. Die Strafverfolger werfen dem Anführer der Gemeindepolizei Terrorismus und Geiselnahme vor. Und das Tragen von Waffen, die den Streitkräften vorbehalten sind. Molinas Jagdgewehr werden sie damit nicht gemeint haben.
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