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Archiv-Artikel

„Ich bin kein Phantom“

Jakob-Maria Mierscheid

„Der Stimmenanteil der SPD bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag richtet sich nach der deutschen Rohstahlproduktion in den alten Ländern in Millionen Tonnen“„Ich habe einen berühmten Vorfahren, Johannes Bückler, den Schinderhannes, der von den Franzosen geköpft wurde. Er wollte die Schwachen mit den falschen Mitteln unterstützen“

Vorige Woche kam die Enthüllung: Jakob-Maria Mierscheid, seit 26 Jahren im Bundestag, verlässt die SPD und will zum neuen Linksbündnis. Kurze Zeit später das Dementi. Was will Jakob-Maria Mierscheid wirklich? Vor allem aber: Wer ist dieser Mann, der seine seltenen Pressemitteilungen mit Schlagzeilen überschreibt wie „Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten“? Ein fiktiver Abgeordneter, wie die Nachrichtenagentur Reuters meldet? Einer, den es geben muss, wie Mierscheid selber sagt? Immerhin, es gibt im Bundestagshandbuch ein Foto, doch das ist reichlich vergilbt. Die taz wollte es wissen und hat einen Termin im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestags bekommen

Interview UWE RADA

taz: Herr Mierscheid, wie steht es in diesem Jahr um die bundesdeutsche Rohstahlproduktion?

Jakob-Maria Mierscheid: Ihre Frage ist falsch. Wenn Sie auf das Mierscheid-Gesetz anspielen, so spricht dieses Gesetz von der Rohstahlproduktion in den alten Bundesländern.

Wenn sie so freundlich wären, uns dieses Gesetz noch mal zu erläutern.

Das Gesetz besagt: Der Stimmenanteil der SPD bei Bundestagswahlen richtet sich nach der deutschen Rohstahlproduktion in den alten Ländern im Wahljahr in Millionen Tonnen.

Dann also die richtige Frage: Wie viele Millionen Tonnen Rohstahl werden in diesem Jahr an Rhein, Ruhr und im Saarland produziert werden?

Die Produktion läuft gut, es lässt ein gutes Ergebnis für die SPD erhoffen, so ungefähr bei 40 Prozent.

Die Demoskopen sehen Ihre Partei deutlich darunter.

Die Demoskopen betreiben Demoskopie, wir reden hier über Gesetzmäßigkeiten. Bei der Wahl 2002 waren Rohstahlproduktion und SPD-Wählerstimmen identisch.

Bei der Bundestagswahl 1990 war die Stahlproduktion deutlich höher als das SPD-Wahlergebnis.

1990 hieß der Kanzlerkandidat der SPD Oskar Lafontaine. Lafontaine hat dieses Gesetz gleich zweimal verletzt. Er hat nicht nur verloren, er hat auch gegen den Trend verloren. Die Stahlproduktion ging nach oben, Lafontaine fiel nach unten. Oskar Lafontaine war ohne Linie, O. L. halt.

Bei der geplanten Bundestagswahl im September tritt O. L. wieder an.

Aber nicht für sie SPD. Für die Linkspartei gibt es ein solches Gesetz nicht.

Apropos Linkspartei. In der vergangenen Woche wurde gemeldet, Sie, Herr Mierscheid, würden die Partei Brandts und Wehners verlassen und stattdessen Unterschlupf bei der Partei Gysis und Lafontaines suchen.

Ich habe dieses sofort dementiert.

Wie konnte es zu dieser Meldung kommen?

Das ist ein Phänomen, das es schon öfter gegeben hat. Ich habe einen guten Namen, der wird gelegentlich missbraucht. Es hat unter der Regierung Kohl sogar CDU-Staatssekretäre gegeben, die unter meinem Namen Presseerklärungen verfasst haben. Hier ist es diesmal nicht von rechts, sondern von links gemacht worden.

Haben Sie ermitteln können, wer mit Ihrem guten Namen Humbug betrieben hat?

Leider nein.

Wo vermuten Sie die Urheber? Im linken Flügel Ihrer Partei? Oder gar bei der Linkspartei selbst?

Welches Motiv sollten Angehörige des linken Flügels der SPD haben, zu behaupten, ich wolle zur Linkspartei gehen? Ein solches Motiv kann es nur von außerhalb geben.

Vielleicht wollen Sie auch nur ablenken, weil es Sie gar nicht gibt. In den Meldungen, die ihren Übertritt zur Linkspartei verkündeten, hieß es, Sie seien ein fiktiver Abgeordneter. Was sagen Sie dazu?

Ich bin eine Realität. Ich bin kein Phantom. Mich muss es geben.

Wie kommt es zu solchen Meldungen?

Missverständnisse, vielleicht auch Böswilligkeit? Ich kann es mir im Einzelnen nicht erklären. Vielleicht glauben auch einige, ich sei ein Phantom, weil Bücher über mich geschrieben werden. Vor einiger Zeit wurde ich sogar der Held eines Romans.

Diesen Roman hat Hella Dubrowsky verfasst. Er trägt den Titel: Rendezvous der Schatten. Nicht gerade der Gegenbeweis für ein Phantom. Dann gibt es dieses Bundestagsfoto von Ihnen, da sehen Sie aus wie August Bebel.

Ich weiß nicht, wie August Bebel ausgesehen hat. Ich bin ihm nie begegnet. Sie werden verstehen, dass ich deshalb nichts dazu sagen kann.

Das Foto muss irgendwie in den Bundestag gekommen sein.

Das müssen Sie die Bundestagsverwaltung fragen.

Sind Sie derjenige auf dem Bild?

Ich fühle mich nicht besonders gut getroffen, aber auch nicht entstellt abgebildet.

Herr Mierscheid, Sie sitzen seit 26 Jahren im Deutschen Bundestag. Wenn alles gut geht und die SPD in Rheinland-Pfalz Sie wieder auf einen sicheren Listenplatz setzt …

Ich habe da jede Unterstützung, auch von Ministerpräsident Kurt Beck. Das hat er letzte Woche noch erklärt.

dann sind Sie auch in der nächsten Legislaturperiode wieder dabei. Wie wird das sein, unter einer Kanzlerin Angela Merkel?

Davon gehe ich nicht aus. Das kann gar nicht sein. Eine ganze Reihe von Gründen spricht dagegen.

Nennen Sie uns einen davon.

Die Geschichte der Bundesrepublik ist nun schon über 50 Jahre lang. Da lassen sich auch noch andere Gesetze ableiten. Zum Beispiel dieses, dass bislang auf einen Katholiken als Kanzler immer ein Evangele folgte, und umgekehrt. Eine Evangelin kann also nicht auf einen Evangelen folgen.

Es war aber auch noch nie eine Frau Kanzlerin.

Das ist kein Grund. Wir hatten noch nie einen Bundeskanzler, der nicht auf Länder- oder auf kommunaler Ebene umfangreiche politische Erfahrung gesammelt hat. Sie wäre der erste Bundeskanzler, dem diese im föderalen System der Bundesrepublik so wichtigen Erfahrungen fehlen.

Dann gibt es noch ein anderes von Ihnen formuliertes Gesetz: Der Kanzler hat Familie, die typisch deutsche mit zwei Kindern obendrein. Einen Kanzler ohne Kinder gab es noch nicht, sagen Sie. Outet sich Jakob-Maria Mierscheid da als Vertreter einer Bundesrepublik, die es nicht mehr gibt?

Nein, auch hier habe ich nur eine Gesetzmäßigkeit festgestellt, ich habe keinerlei Werturteile damit verbunden. Dass soll aber nicht heißen, dass ich nicht wertkonservativ bin und von Familie und Kindern viel halte. Ich habe selbst vier Kinder.

Es gibt von Ihnen ein Gedicht, in dem es zur Melodie von Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, über Frau Merkel heißt: Und Angela trotzig sitzet / im Bundestag wunderbar / ihr goldnes Geschmeide blitzet / Waltz kämmt ihr goldenes Haar.

Den Text, den sie zitieren, habe ich, weil ich zu geistigem Eigentum die gleiche Einstellung habe wie Bertolt Brecht, teilweise entliehen. Es ist das Loreley-Gedicht von Heinrich Heine, das ich den heutigen Verhältnissen angepasst habe. Ich denke, dass man weder mir noch Heinrich Heine Frauenfeindlichkeit nachsagen kann.

Zur neuen Anständigkeit gehört es aber auch, nicht mehr über das Haar von Frau Merkel zu spotten. Der Bundeskanzler verbietet sich auch, über seine Haarfarbe zu spekulieren.

Ich bin nicht der Bundeskanzler.

Sie spotten über das Haar von Frau Merkel und schieben das noch Heinrich Heine in die Schuhe?

Ich würde über das Haar von Frau Merkel nie spotten, nicht einmal eingedenk der Tatsache, dass Herr Waltz gerade in die CDU eingetreten ist.

Wenn Sie schon nicht über die Kanzlerin reden wollen, dann bleiben wir noch einen Moment beim Kanzler. Gerhard Schröder hat nach der Wahl in NRW die Flucht nach vorne angetreten. Wenn Herr Schröder und Herr Müntefering Sie vorher um Rat gefragt hätten, hätten Sie ihnen abgeraten?

Ich hätte ihnen einen guten Rat gegeben. Kennzeichen eines guten Rates ist, dass man ihn nicht öffentlich macht. Guter Rat soll überlegt sein, intelligent und durchdacht. Er ist das ganze Gegenteil von Talkshows. Ich gehe nie in Talkshows. Vielleicht ist das ein Grund für die Wertschätzung, die ich genieße.

Überlegt und durchdacht scheint die Ankündigung von Neuwahlen nicht gewesen sein.

Sie werden mich nicht aus der Reserve locken. Ich habe meine Meinung dazu. Ich trage diese Entscheidung mit. Sie wird zum Erfolg führen. Im Übrigen finde ich es einen Verlust an politischer Kultur, wenn man die Ratschläge anderer erst aus den Medien erfährt.

Diese Unart begann im Grunde mit dem Umzug von Regierung und Parlament vom Rhein an die Spree. Wie haben Sie als Rheinländer diesen Wechsel von der Bonner zur Berliner Republik erlebt? Haben Sie sich fremd gefühlt?

Nein, ich war auch vor dem Umzug schon in Berlin gewesen. Die Umgangsformen vieler in Berlin sind aber deutlich rauer als die in Bonn.

Heimweh gehabt?

Nie.

Warum dann das Café Mierscheid?

Damit habe ich nichts zu tun. Es gab auch in Bonn ein Café Mierscheid. Im Übrigen habe ich den Weg von Bonn nach Berlin im Kanu zurückgelegt, um die Einheit voranzutreiben. Das waren 750 Kilometer Strecke, 18 Tage.

Die Ankunft werden Sie bei Friedel Drautzburg in der Ständigen Vertretung begossen haben.

Das durften wir nicht, weil die Spree zwischen Kanzleramt und Oberbaumbrücke für motorlose Gesellen gesperrt ist.

Was bedeutet Ihnen Heimat, Ihre Vergangenheit. Sie sind in Morbach geboren.

Ich komme aus Morbach im Hunsrück. Deshalb kann ich auch die Verhaltensweise von Saarländern wie Oskar Lafontaine sehr gut beurteilen. Morbach liegt am Anfang eines Waldgebietes im westlichen Hunsrück. Hinter dem großen Wald beginnt das Saarland.

Sie sind 1933 geboren. Wie muss man sich das vorstellen: Ein junger Mann in der Nachkriegszeit, am Rande des Waldes – was bringt einen in solch einer gottverlassenen Gegend zur SPD?

Die Gegend ist nicht gottverlassen.

Sie sind Katholik.

Ich bin katholisch. Und die Gegend ist nicht gottverlassen. Was einen da prägt, ist die Erfahrung materieller Entbehrung und gleichzeitig die Erfahrung von Solidarität. Dazu Bodenständigkeit, Zuverlässigkeit.

Sie sind ein leidenschaftlicher Taubenzüchter. Sehen Sie sich auch als Sozialdemokrat als Vertreter der alten Schule?

Ich mag solche Begriffe nicht. Ich bleibe mir treu.

Bleibt sich die SPD treu?

Ich habe einen berühmten Vorfahren, Johannes Bückler, den Schinderhannes, der von den Franzosen geköpft wurde. Er wollte die Schwachen mit den falschen Mitteln unterstützen.

Sie aber wollen kein Märtyrer werden?

Nein.