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„Ich bin den besseren Weg gegangen“

Das Thema Essstörungen war lange tabu im Peloton. Jetzt wird offener darüber gesprochen, auch weil Clara Koppenburg ihre lange Leidensgeschichte publik gemacht hat. Ein Gespräch über den Druck als Profi, Raubbau am eigenen Körper und die Faszination des Radfahrens

Leidenszeit: Clara Koppenburg bei der Tour de France 2023 auf dem Weg zum Tourmalet Foto: frontalvision/imago

Interview Andreas Rüttenauer

taz: Frau Koppenburg, Sie bereiten sich gerade in Spanien intensiv auf die neue Saison vor. Was ist für Sie das Besondere am Radfahren?

Clara Koppenburg: Das ist für mich immer das Highlight des Tages. Ich steige aufs Rad und fühle mich einfach frei und glücklich. Ich finde es einfach herrlich, durch die Gegend zu fahren, mich mit harten Intervallen auch mal ein bisschen aus der Komfortzone rauszuholen, mich zu verbessern. Oder einfach mal fünf Stunden Grundlage zu fahren, Spanien und die Welt zu erkunden. Für mich ist Radfahren einfach so etwas wie ein Haltepunkt im Leben. Ich habe Zeit zum Nachdenken und bin an der frischen Luft. Wenn mal etwas schiefgegangen ist, weiß ich: Nach dem Radfahren geht es mir immer besser.

taz: Anfang August haben Sie auf Instagram Ihre gesundheitlichen Probleme öffentlich gemacht, Ihre Essstörung thematisiert. Haben Sie damals auch an einen Abschied aus dem Radsport nachgedacht?

Koppenburg: Nach der Tour de France habe ich wirklich überlegt, ob ich ganz aufhöre mit dem Radsport. Ich investiere so viel, trainiere so viel, bin so viel weg von meiner Familie. Und wenn du dann keinen Spaß hast bei dem, worum es eigentlich geht, die Rennen, stimmt etwas nicht mehr. Alles am Radfahren hat mir Spaß gemacht, aber die Rennen nicht. Da fängt man schon an, alles zu hinterfragen.

taz: Mit gesundem Körpergewicht haben Sie sich schwer getan im Gebirge. Mit 46 bis 47 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,70 Metern war das anders. Wie hat sich das angefühlt?

Koppenburg: 2018 habe ich ungewollt viel Gewicht verloren. Das war auch stressbedingt, nicht nur wegen des vielen Trainings. Da habe ich plötzlich gemerkt: Oh, ich komme ja die Berge jetzt viel schneller hoch. Da habe ich mir gedacht, das ist doch eigentlich ganz cool. Ich hatte ja alles auf den Leistungssport gesetzt, meine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Und plötzlich lief alles so viel besser und ich konnte vorne mitfahren. Warum hätte ich daran etwas ändern sollen?

taz: War Ihnen bewusst, dass sie mit Untergewicht unterwegs waren?

Koppenburg: Ja, und das wurde mir auch von meiner Familie und von meinen Freunden gesagt. Sie alle haben sich sehr viel Sorgen um mich gemacht. Ich bin teilweise auch von meinen Teams aus dem Kader für Rennen genommen worden. So kannst du keine Rennen fahren, das ist einfach zu gefährlich, hieß es da.

taz: Das hat Sie nicht zum Umdenken gebracht?

Koppenburg: Zu dem Zeitpunkt habe ich das überhaupt nicht akzeptiert. Ich habe mich gefragt: Warum ich? Warum wird die stärkste Fahrerin im Team gesperrt? Ich habe mich total gut gefühlt, hatte jede Menge Energie. Auf dem Rad habe ich mich einfach stark gefühlt. Das Training lief gut. Ich konnte alles richtig gut fahren. Heute weiß ich, dass das körperliche Prozesse sind, die ablaufen, wenn du im Untergewicht bist. Der Körper ist die ganze Zeit in einer Art Überlebensmodus und schüttet jede Menge Adrenalin aus. Deswegen kannst du so viel Leistung bringen. Auch wenn mir das in der Theorie alles total bewusst war, habe ich mich gefragt, warum ich alles in Frage stellen soll, wenn es doch so gut läuft.

taz: Was denken Sie sich heute, wenn Sie Bilder aus dieser Zeit sehen?

Koppenburg: Es schockt mich schon. Ich finde, das sieht schrecklich aus. Ich finde mich dann nicht hübsch. Auch zu dem Zeitpunkt habe ich mich nicht hübsch gefühlt. Aber ich habe mich als Sportlerin gesehen. Ich dachte, genau so müssen Sportlerinnen aussehen.

taz: Kamen Ihnen da nie Zweifel?

Koppenburg: Es gab dann schon immer wieder Phasen, in denen ich versucht habe zuzunehmen. Wenn die Teamleitung gesagt hat: „Hey, du kannst so nicht fahren“, habe ich es versucht. Ich wollte ja Rennen fahren. Ich wollte mich zeigen, wollte einfach alles geben auf dem Fahrrad und so. Nach zwei, drei Jahren habe ich schon gemerkt, okay, jetzt muss ich wirklich einen Schnitt machen, wirklich mehr zunehmen, weil es sonst einfach an meine Gesundheit geht. Und dann hat doch der letzte Kick gefehlt.

taz: Trotz der massiven Veränderungen in Ihrem Hormonhaushalt?

Koppenburg: Erst Ende 2023 hat es diesen Kick gegeben. Seitdem bin ich dann auf dem Weg der Erholung und habe dann wirklich gut zugenommen. Ich habe dann meine Periode, die jahrelang ausgeblieben war, wieder bekommen. Aber so einfach war das nicht. Es ist nicht gleich alles wieder im grünen Bereich gewesen. Das hat alles Nachwirkungen im Körper. Mit denen um­zugehen, ist mental schon schwer. Da gab es ja auch die Hoffnung, dass mit mehr Gewicht auch mehr Power kommt. Aber wenn das ausbleibt, dann fängt man gleich wieder an, alles zu hinterfragen.

taz: Sie haben es also manchmal bereut, den Weg der Gesundheit eingeschlagen zu haben?

Koppenburg: Ich habe mich oft gefragt, ob es der richtige Schritt war. Für mich als Person weiß ich: Es war richtig. Für mich als Sportlerin ist das nicht so einfach. Ich kann jetzt einfach nicht mehr genauso viel Watt pro Kilogramm Körpergewicht treten. Das ist am Ende beim Radfahren der entscheidende Wert. Wenn du weniger wiegst und mehr Watt treten kannst, bist du einfach schneller am Berg. Natürlich habe ich mich da hinterfragt. Aber dann war ich immer relativ schnell wieder bei mir selber und habe mir gesagt: Du bist richtig so, wie du bist. Ich kann heute stolz darauf sein, dass ich das geschafft habe ohne größere Auswirkungen auf meinen Körper. Da ist jetzt fast alles wieder in Balance. Bei anderen stimmt der Hormonhaushalt auch nach einer Gewichtzunahme immer noch nicht.

taz: Wie groß ist das Problem im Peloton?

Koppenburg: Es betrifft wirklich viele, auch im Männerradsport. Da geht es gar nicht immer nur um Untergewicht. Es geht um gestörtes Essverhalten, um den konstanten Druck im Kopf, Gewicht verlieren zu müssen. Das Thema ist riesengroß, und so gut wie niemand hat darüber gesprochen. Seit ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, haben sich viele andere Fahrerinnen geäußert. Es ist eben eine Krankheit. Am Ende habe ich es geschafft, sie zu überwinden, aber das war harte Arbeit. Wenn ich mir ein Bein breche, trösten mich alle und schicken mir Blumen. Aber wenn ich eine psychische Krankheit habe, möchte keiner etwas damit zu tun haben. Das finde ich den falschen Ansatz.

taz: Die Französin Pauline Ferrand-Prévot hat massiv abgenommen, um die Tour de France zu gewinnen. Was haben Sie gedacht, als Sie die spätere Siegerin am Start gesehen haben?

Koppenburg: Sie hatte sich ja in den Monaten vor dem Rennen komplett isoliert. Als man sie dann zwei, drei Tage vor der Tour das erste Mal gesehen hat, war ihr Gewicht das große Thema. Ich hatte so viele Gedanken: Hoffentlich gewinnt sie nicht, sie wäre dann ja ein schlechtes Vorbild. Oder: Wenn sie jetzt gewinnt, dann heißt es, das ist der richtige Weg. Und bei mir kam auch der Gedanke hoch: Die gibt alles für ihren Sport für so einen Sieg – und ich? Ich habe das einfach schleifen lassen. Aber dann habe ich den Gedanken auch schnell wieder verworfen und mir gesagt: Nein, du bist den besseren Weg gegangen.

Clara Koppenburg

war eine der besten Bergfahrerinnen Deutschlands. Zur kommenden Saison wechselt die 30-Jährige vom Straßenradsport in die Gravelszene.

taz: Wie wichtig war es da, dass die Tour-Zweite Demi Vollering gesagt hat, so wie Pauline Ferrand-Prévot wolle sie nicht mit ihren Körper umgehen?

Koppenburg: Ich denke, alle bewegen sich auf einem schmalen Grat, was das Gewicht betrifft. Alles wissen, dass es etwas bringt, für spezielle Events ein, zwei Kilo weniger auf die Straße zu bringen. Das gehört zu den Schrauben, an denen man drehen kann. Aber auf lange Sicht gesehen tun wir unserem Körper damit schon viel Leid an. Wir setzen ihn ununterbrochen einem extremen Stress aus. Nicht nur durch das Training, sondern eben auch durch die Ernährung oder die Reisen. Demi zeigt nun, dass man mit einer gesunden Einstellung zum Körper eine der Topathletinnen der Welt sein kann.

taz: Sie haben mit Ihrem Normalgewicht im Straßenradsport den Anschluss verloren. Weiter geht es in einem neuen Team auf Schotterwegen bei Gravelrennen. Wie wichtig sind Ihnen da die sportlichen Erfolge?

Koppenburg: Sehr wichtig. Dafür trainiere ich ja so viel. Aber ich habe auch gemerkt, dass es nicht alles ist. Oft ist es genauso viel wert, wenn man einfach mit sich zufrieden ist, weil man ein tolles Rennen gefahren ist oder einer Teamkollegin zu einem guten Ergebnis verholfen hat. Doch ich würde lügen, wenn ich sage, dass mir der Erfolg total egal ist. Aber für die nächsten ein, zwei Jahre habe ich mir auch vorgenommen, dass ich einfach, so gut es geht fahre, so gut es geht trainiere, und dabei einfach Spaß habe, auch weil ich noch neu im Gravel bin. Wenn ich Spaß habe, mich wohlfühle, wenn ich mir selber mehr zutraue, nicht immer nur mein Gewicht im Kopf habe, kommen die Ergebnisse ganz automatisch. Ich habe nichts zu verlieren, absolut gar nichts.

taz: Auf welches Rennen im nächsten Jahr freuen Sie sich besonders?

Koppenburg: Auf alle. Ich freue mich wirklich ungelogen auf jedes einzelne Rennen nächstes Jahr und bin mega­gespannt, wie es wird. Und wenn ich jetzt an eine neue Straßensaison denken würde, gäbe es vielleicht ein Rennen, auf das ich mich richtig freuen würde, und alle anderen wären einfach nur Arbeit. Aber jetzt glaube ich, das wird alles richtig, richtig cool. Ich möchte einfach ganz viele neue Erfahrungen sammeln. Und dann schauen wir mal, was draus wird.

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