INTERVIEW: „Koexistenz im Alltag gehört zur Tradition“
■ Harlem D'esir von S.O.S. Racisme über Fremdenhaß und Integration in Frankreich/ Eine bürgerlich-rechtliche Konzeption der Nationalität
taz: Deutschland erlebt derzeit eine Welle des Fremdenhasses. Gibt es in Frankreich ähnliche Entwicklungen?
Harlem D'esir: In Frankreich hat es Mitte der achtziger Jahre angefangen mit dem Aufstieg der Front National. Heute hat man den Eindruck, daß sich der Fremdenhaß auch außerhalb der Front National ausbreitet. Ein Teil der „etablierten“ Rechten zeigt immer offener, daß er zu Allianzen mit der Front National bereit ist, um zu Mehrheiten zu kommen. Sie kennen die jüngsten Äußerungen des ehemaligen Präsidenten Valéry Giscard d' Estaing, der von einer „Invasion“ der Ausländer sprach und in der Frage der Nationalität das „Recht des Bodens“ zugunsten des „Rechts des Bluts“ infragestellte — was der französischen Tradition ganz und gar widerspricht. Frankreich hat seit hundert Jahren ganze Generationen von Immigranten integriert, deren Kinder, wenn sie auf französischem Boden geboren waren, automatisch Franzosen wurden.
Auch ein Teil der Linken scheint dem Druck der Angst und Vorurteile leider nachgeben zu wollen. Der Diskurs über Gastfreundschaft und Gleichheit wird immer mehr aufgegeben, die Tendenz, die Grenzen zu schließen, Ausländer auszuweisen, Kontrollen zu verschärfen, nimmt zu.
Man sollte andererseits keinesfalls übersehen, daß Frankreich nach wie vor ein wirklicher Schmelztiegel ist. Es gibt hier keine Straßenschlachten zwischen Schwarzen und Juden wie in Brooklyn, es gibt keine arbeitslosen Jugendlichen, die Molotow-Cocktails auf Ausländerheime werfen, während das Publikum applaudiert, wie in Deutschland. Die Situation in Frankreich ist paradox: Trotz der immer ausländerfeindlicheren Politik gibt es im Alltag eine Koexistenz. Das gehört hier einfach zur Tradition.
Ausschreitungen gab es hier doch auch, sogar Tote.
Natürlich: rassistische Verbrechen, Übergriffe der Polizei. Das Übel ist auch hier am Werk, wie in Deutschland. Was ich nur sagen will: Man muß wachsam sein, nichts ist selbstverständlich, in jedem von uns stecken grauenhafte Möglichkeiten — aber man sollte jetzt auch nicht gleich „Faschismus“ schreien. Die Mehrheit lebt hier in friedlicher Koexistenz mit den Ausländern oder den Franzosen ausländischer Herkunft.
Gerade die Jugendlichen: Sie gehen zusammen zur Schule und dann zur Arbeit oder auch in die Arbeitslosigkeit. Wenn es Jugendbanden gibt in den Vorstädten, dann sind sie nicht ethnisch definiert — sie sind gemischt —, sondern sozial.
Muß der „Zustrom“ von Ausländern begrenzt werden, damit die Integration nach innen möglich wird?
Die Schließung der Grenzen wäre eine ganz falsche Poltik. Da gibt es einen Erfahrungssatz: Es hat noch nie eine Regierung gleichzeitig die Grenzen zugesperrt und nach innen die Integration vorangetrieben. Das Gegenteil würde passieren: Jeder Ausländer und Immigrant würde schräg angesehen und verdächtigt, illegal eingewandert zu sein.
Die richtige Antwort wäre vielmehr eine verantwortungsvolle Entwicklungspolitik. Die Leute haben Angst vor der Immigration, weil sie sehr wohl sehen, daß die Wirtschaft in maghrebinischen Ländern und Schwarzafrika zusammenbricht. Also denken sie: Die haben Hunger, also kommen sie zu uns. Dagegen muß man etwas tun: Das heißt auch, daß die Demokratisierung der Regimes im Süden unterstützt werden muß. Die Entwicklungshilfe muß vor Ort ansetzen. Aber das bringt natürlich weniger Wählerstimmen, als wenn man über die Immigranten herzieht.
Wie sieht Ihr Modell der Integration aus? Würden Sie so weit gehen wie Alain Peyrefitte, Giscards ehemaliger Justizminister, der kürzlich im 'Figaro‘ schrieb, nicht Integration, sondern Assimilation fremder Nationalitäten sei französische Tradition?
Assimilation? Was soll das heißen? Daß sich die Immigranten einem Modell anpassen? Daß sie ihre Kultur vergessen sollen? Das ist falsch! Darum gibt es doch in Frankreich eine Trennung von Kirche und Staat: Weil nicht eine einzige Religion und Kultur vorgeschrieben werden soll, weil die französische Staatsbürgerschaft eben nicht über diese Dinge definiert wird. Darum mag ich das Wort nicht.
Natürlich müssen die Immigranten auch etwas aufgeben, wenn sie Franzosen werden wollen. Sie müssen die Rechte der Frauen anerkennen — ich bin gegen Polygamie und Beschneidung der Mädchen. Sie müssen sich dem pacte r'epublicain anschließen, Demokratie und Menschenrechte, die Freiheit des anderen respektieren. Aber sofern er das tut, kann jeder Franzose werden, egal woher er kommt. Frankreich hat keine ethnische Konzeption der Nationalität, sondern eine bürgerlich-rechtliche, und ich glaube, da muß man sehr offensiv und optimistisch sein.
Auch die Franzosen müssen etwas hinzulernen: Daß man Europäer sein kann, obwohl man aus einem anderen Kontinent stammt. Von der Linken erwarte ich, daß sie diesen Prozeß, der ein wirklicher und schwieriger kultureller Wandel ist, fördert und begleitet. Klar war es mit den Polen und Spaniern einfacher. Da war der Unterschied nicht zu sehen. Da konnte man in der Schule sitzen und sagen: „Unsere Vorfahren, die Gallier.“ Jetzt muß man sagen lernen: „Unsere Vorfahren, die Gallier, die Sarazenen, die Chinesen.“ Interview: Thierry Chervel
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