INTERVIEW: „Ich konzentriere mich auf die Monozyten“
■ Rosalie Bertell, Ärztin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises, über die Früherkennung von Strahlenschäden
taz: Seit dreißig Jahren beschäftigen Sie sich mit der radioaktiven Niedrigstrahlung. Hat sich Ihre Bewertung in dieser Zeit verändert?
Rosalie Bertell: Nicht so, daß ich die Strahlung weniger gefährlich finden würde. Ich konzentriere mich aber nicht mehr auf die krebsauslösenden Eigenschaften der Strahlung. Das ist eine Falle. Wenn man nämlich krebskrank wird, hat man schon seit 20 Jahren etwas falsch gemacht. Daher suche ich heute nach Frühindikatoren für Krankheiten, am besten Frühindikatoren, die anzeigen, wenn die Symptome noch reversibel sind. Ich warte also nicht mehr auf den Ausbruch von Leukämie, denn das wäre eine der ersten Krebsarten, die auftreten würde. Statt dessen suche ich nach Veränderungen im Blutbild. Es gibt Anzeichen, daß die Forschung in diesem Gebiet sich bisher auf die falschen Blutzellen konzentriert hat. Wissenschaftler haben bisher auf die Lymphozyten und neutrophile Granolozyten, zwei Unterarten der weißen Blutkörperchen, gesetzt. Bei geringen Strahlungsdosen sollten sie sich lieber eine andere Unterart, die Monozyten, ansehen.
Was sind Monozyten?
Diese Zellen werden im Knochenmark produziert. Die Stammzellen, die sie produzieren, sind sehr strahlungsempfindlich. Veränderungen bei den Monozyten sind der Schlüssel für zwei Arten von Erkrankungen. Erstens recyceln die Monozyten beim Absterben roter Blutkörperchen das Eisen aus diesen Blutkörperchen. Wenn die Monozyten nicht arbeiten, kommt es also häufig zu Eisenanämien. Wichtiger aber für uns ist folgendes: Selbst wenn wir ein völlig intaktes Zell-Immunsystem (aus Lymphozyten) haben, unser Zell-Immunsystem wird von den Monozyten an- und abgeschaltet. Wenn die Monozyten das Immunsystem nicht anwerfen, kann der Lymphozytenwert völlig normal sein, die Immunreaktion aber abnormal. Das gibt dann Tuberkoloseerkrankungen freie Bahn. Es erleichtert aber auch die Bildung von Tumoren, denn das Immunsystem unterdrückte sonst auch Tumore. Wenn man also frühzeitig einen Mangel an Monozyten registrieren kann, könnte man die Gefährdeten schützen.
Unabhängig davon, gibt es neue Berechnungen über die Zahl der Strahlenopfer weltweit?
Ich habe eine Studie über die Zahl der Opfer auf Basis der UN-Schätzungen über Routine-Radioaktivität und oberirdische Atomtests angestellt. Damals kam ich auf die Zahl von 16 Millionen Opfern. Dabei ist kein einziger Atomunfall berücksichtigt: nicht Tschernobyl, nicht Tscheljabinsk, nicht Hanford oder Rocky Flats. Nicht berücksichtigt sind auch die hohen Belastungen für Atomarbeiter. In Japan gibt es zum Beispiel die sogenannten Atomzigeuner: Reinigungs- und Reparaturtrupps, die von AKW zu AKW ziehen, und dabei häufig verschweigen, daß sie gerade erst im anderen AKW einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt wurden. Inzwischen sind zudem die Hiroshima-Daten über die Wirkung von radioaktiver Niedrigstrahlung nach oben korrigiert worden, die prognostizierte Zahl der Opfer soll sich danach verdoppeln. Allein das würde die Zahl der Opfer weltweit auf 32 Millionen schrauben.
Gibt es Schätzungen über den Anteil der militärischen und der sogenannten zivilen Nutzung der Atomkraft bei diesen Opfern?
Ich habe versucht, das zu trennen. Häufig sind aber militärische und zivile Nutzung, zum Beispiel in der Wiederaufarbeitung, so eng verknüpft, daß solche Schätzungen fast unmöglich sind. In den USA gibt es eine Trennung zwischen beiden Bereichen erst seit 1972. Ich glaube also nicht, daß man das wirklich auseinanderdividieren kann. Interview: Hermann-Josef Tenhagen
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