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INTERVIEWDen „Sättigungspunkt der Integration“ erreicht

■ Statt politisch-geographischer Staaten entstehen vollkommen neue Währungsgemeinschaften in der ehemaligen Sowjetunion

Simon Kordonskij, 46, hat ein Biologie-Studium abgeschlossen, ist praktizierender Soziologe und Wirtschaftsfachmann. Er arbeitet als Berater für die Komission der Weltbank zur Verteilung der Hilfe der G-7 in der ehemaligen Sowjetunion und als Redakteur der Zeitschrift 'Das 20. Jahrhundert und der Frieden‘ in Moskau. Simon Kordinskij publizierte im 'Kursbuch‘ (in der Nummer: „Rußland verstehen“, Nr. 103, März 1991) den Artikel „Der russische Mensch als Objekt des Mitleids“

taz: Können denn die Russen heute überhaupt an soetwas, wie eine Währungs- und Regierungsunion zwischen verschiedenen Ländern glauben?

Simon Kordonskij: Im großen und ganzen ist ihnen die westeuropäische Entwicklung zutiefst gleichgültig. Nichteinmal die bewaffneten Konflikte, die jetzt an unserer südlichen Grenze beginnen, werden von ihnen als etwas wahrgenommen, das das eigene Land betrifft. Den Umfragen zufolge regen sich die Einwohner unserer Großstädte heute ausschließlich über den Mangel an Nahrungsmitteln und die krass steigende Verbrechensrate auf.

Und wie sehen Sie selbst die EG- Entwicklung?

Es scheint, daß auf der Welt gegenparallele Prozesse in Gang gekommen sind: die Integration in Westeuropa und die Desintegration hier, deren Ausgangspunkt übrigens ein derartig hohes Stadium von Integration war, daß sich Westeuropa von dergleichen nie träumen ließe. Vielleicht gibt es ja soetwas wie einen Sättigungspunkt der Integration, den Westeuropa ebenso wie die ehemalige UdSSR, von verschiedenen Seiten her erreicht wird.

Könnte das Streben der Westeuropäer zu einem noch besseren Leben untereinander hier nicht ein Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Feindschaft hervorrufen?

Das tut es bereits. Das sieht man in dem Moskauer Straßen an der Haltung gegenüber den westlichen Ausländern: da offenbarten sich Neid und gleichzeitig das Bestreben, den „Westler“ übers Ohr zu hauen, ihn möglichst irgendwie zu fleddern, und die große Hoffnung auch für den miesesten kleinen Dienst wenigstens ein paar Münzen konvertierbarer Währung abzusahnen. Politisch aktiv sind dabei nur bestimmten Gruppen von Menschen, zum Beispiel die “ Union Industrie und Wissenschaft . Ihr gehört Arkadij Wolskij an, der ehemalige Leiter der Militärindustrie-Abteilung des ZK, der heute praktisch die Militärindustrie in der UdSSR anführt. Er verfolgt eine sehr strikte Politik gegenüber dem Westen. Wann immer er sich mit westlichen Geschäftsleuten oder Diplomaten trifft, läßt er sie wissen: wenn ihr die ehemals sowjetischen Produktionsstätten für Kernwaffen und chemische Waffen ohne Futter laßt — dann wird etwas schreckliches passieren. Und dann gibt es auch noch die Suche nach unkontrollierbaren Ausgängen für wertvolle Güter auf den Märkten der westkichen Gemeinschaften. Das wird dort in nächster Zeit noch zu Spannungen führen.

Werden die ehemaligen Sowjetrepubliken nicht über den von Ihnen beschworenen “ Sättigungspunkt hinausschießen, wenn sie jetzt jede ihre eigene Währung anstreben.

Bereits zur Zeit fluktuieren auf den Märkten der ehemaligen UdSSR etwa acht bis zehn Milliarden Dollar. Ich glaube, daß sie zur festen Währung eines sehr beschränkten Personenkreises werden. So gesehen ist der Geltungsraum des Rubel bereits eine Fiktion.

Auch bisher waren die Preise bei uns bei weitem nicht das, was Preise im Westen sind. Die Kaufkraft des Rubels für einen bestimmten Menschen ergab sich nicht aus dem nominellen Wert, sondern aus der eigenen Stellung in der Nomenklatura. Ein Mensch mit Einfluß und Beziehungen konnte für seinen Rubel ganz andere Waren bekommen, als jemand ohne dies alles.

Was jetzt auf uns zukommt, ist eine soziale Währungs-Hierarchie. Vor einer Woche hat mir jemand aus Jekaterinburg (früher Swerdlowsk, Zentrum der Schwer- und Rüstungsindustrie. Anm d. Red.) im Ural einen neuen Geldschein mitgebracht, einen sogenannten “ Ural-Franken , der im Permer Werk der ehemaligen sowjetischen Staatsmünze gedruckt worden ist. Etwa fünfzehn bis sechzehn Millionen hat man erstmal losgelassen. Die Ural-Unternehmer gedenken, einen eigenen Benutzerkreis für diese Währung zu formieren, in Zentralrußland wird gleichzeitig eine rein elektronische Währung kreiert. Auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR wird es in den nächten Monaten zu einem Boom diverser Gelder kommen. Da entstehen wirklich neuen Staaten, aber nicht im traditionellen politisch-geographischen Sinne, sondern Währungsgemeinschaften über die verschiedenen Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken hinaus.

Die neuen Nationalstaaten sind also gar nicht so wichtig?

Interessant scheinen mir die neuen Republiken, die in den nächsten Monaten beim Prozess des Zerfalls der Russischen Union entstehen werden. Die Gründung einer Kosakenrepublik im Südosten des Landes steht bevor. Dies scheint ein Staat zu werden, der einen starken Fundamentalismus vor allem um die Aufgabe zu zentrieren scheint, neue Feindbilder zu suchen. Hier können durchaus anti-westliche Impulse entstehen.

Macht sich nicht auch unter westlichen Intellektuellen nach dem Golf-Krieg ein gewisser Fundamentalismus breit, eine Vorliebe für heilige Kühe und „splendid Isolation“?

Ich war im Mai in England, habe mich dort aber nur in einem kleinen Kreis bewegt. Lord Harris, der im Queen's College eine Fakultät leitet, fragte mich damals eben danach, ob mir nicht dieser ganze politische Überbau der europäischen Integration überflüssig erschiene. Ich habe geantwortet, daß die EWG nicht nur einer weitergehenden politischen, sondern auch einer militärischen Integration bedarf. Denn im Osten und Süden Europas reifen Konflikte von einer solchen Tragweite heran, daß sie nicht nur die europäische —, sondern die Weltgemeinschaft bedrohen — und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in ihrer politischen und kulturellen Existenz. Interview: Barbara Kerneck, Moskau

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