INTERVIEW: „Die Bürger dieses Landes sind getäuscht worden über den Wert Europas“
■ Der Pariser Politikprofessor und Deutschlandexperte Alfred Grosser (1925 in Frankfurt/M. geboren), Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, über die „Angst vor Deutschland“
taz: Herr Grosser, in Frankreich argumentieren Gegner und Befürworter des Vertrags von Maastricht mit dem Schreckgespenst Deutschland. Der sozialistische Präsidentschaftskandidat Michel Rocard sagte gar, ein französisches Ja zu Maastricht werde Deutschland vor seinen „Dämonen“ schützen. Wie ist denn dieses Argument aufgekommen?
Alfred Grosser: Solche widersprüchlichen Vorwürfe gibt es in Frankreich schon seit Jahrzehnten. Damit müssen die Deutschen leben. Wenn Deutschland sagt: mehr europäische Gemeinschaft — was Kohl übrigens immer gesagt hat —, dann heißt es, ihr wollt die Gemeinschaft von innen meistern und erdrücken. Wenn Deutschland sagt: weniger europäische Gemeinschaft, dann heißt es natürlich, ihr wollt Europa ohne die Gemeinschaft beherrschen. Aber ich glaube, das ist nicht das Wesentliche in der Diskussion. Unter hundert Nein- Stimmen werden meiner Ansicht nach keine fünf oder zehn von diesem Deutschland-Bild bestimmt. Ich meine, wir sollten vielmehr mit den Deutschen Angst haben vor dem französischen Nein.
Besteht denn wirklich noch Angst vor Deutschland? Dient dieses vereinfachende Argument vielleicht dazu, Schwächen in der Diskussion zu verbergen?
Es gibt noch Ängste, die ihre Gründe haben, Gründe nicht nur in der deutschen Wirklichkeit, sondern vor allem im französischen Image von Deutschland. So geben unsere Fernsehleiter heute zu, daß sie es seit Jahrzehnten versäumt haben, vernünftig über Deutschland zu informieren. Doch das wesentliche Argument in der Debatte lautet doch: Maastricht ist eine gute Gelegenheit, Mitterrand aus dem Amt zu jagen. Das habe ich jetzt in der Provinz, in der Bretagne, immer wieder gehört. Ein Präsident, der bei demoskopischen Untersuchungen über seine Popularität keine 30 Prozent Sympathien mehr hat, bei dem sagt man zu allem nein, was er vorschlägt. Deswegen ist das Ja von Mitterrand- Gegnern wie Valery Giscard d'Estaing, Raymond Barre oder Jacques Chirac so wichtig.
Sprechen Frankreich und Deutschland in Sachen Europa dieselbe Sprache, beispielsweise, wenn es um die politische Union geht oder um Demokratisierung?
Nein, da hat Kohl nicht erreicht, was er wollte. Das ist Mitterrands Schuld, der vorsichtig sagte: Ich kann den Vertrag in Frankreich nicht durchbringen, wenn zuviel politische Gemeinschaft kommt. Und deswegen gibt es ein gutes Argument gegen die gemeinsame Währung: Wo ist die politische Macht, die letzten Endes die gemeinsame Währung handhabt? Das ist eine der Schwächen des Vertrags. Aber der Angriff auf die Währungsunion lautet im allgemeinen anders, und zwar: Wir werden womöglich von der Mark dominiert. Die Antwort von seiten der Maastricht-Befürworter ist eine gute, die natürlich in Deutschland schlecht ankommt, nämlich: Mit der gemeinsamen Währung bekommen wir viel mehr Macht auf dem Währungsgebiet und werden die Mark mitkontrollieren. Heute sind wir hingegen theoretisch souverän, können aber nichts machen ohne Entscheidung der Bundesbank.
Hat Mitterrand richtig gehandelt, als er sich am 3.Juni für das Referendum und gegen den parlamentarischen Weg entschied?
Nein, ich glaube, er hatte Unrecht. Zuerst einmal hat er es aus Gründen gemacht, die wenig mit Europa zu tun hatten. Er glaubte damals, daß es eine klare Ja-Mehrheit geben würde und daß er das Referendum benützen könne, um noch mehr Uneinheit in die Opposition zu bringen, die sich zwischen Ja und Nein säuberlich aufteilt. Dazu kommt noch, und das hätte man aus Dänemark lernen können, daß die Wähler den Text von Maastricht unverständlich finden. Und da haben sie völlig recht: Der eigentliche Vertrag ist der Vertrag von Rom von 1957, der von „Maastricht“ lediglich modifiziert wird; dieser Text hätte verbreitet werden müssen. Wie kann man jedoch einen Text verstehen, wo es heißt — ich erfinde: „Artikel 11: Der letzte Satz vom Artikel 77 des römischen Vertrags wird gestrichen.“ So geht es zwar mit Hunderten von Gesetzestexten, doch die bleiben unter Spezialisten.
Die Debatte um Maastricht zeigt also auch, wie weit sich die Politiker von den Bürgern entfernt haben.
Nein, es handelt sich nicht um eine Entfernung, sondern um Betrug. Die Bürger dieses Landes sind vielmehr getäuscht worden über den Wert Europas. Ich nehme ein Beispiel: die Bauern. Die Landwirte sollten Brüssel ununterbrochen dankbar sein, denn die Gemeinschaft ruiniert sich für sie. Welcher Landwirtschaftsminister in Bonn oder in Paris sagt das seinen Bauern? Er sagt statt dessen: Alles, was gut ist, kommt von der Regierung, alles, was schlecht ist, kommt von Brüssel. Das ist auf anderen Gebieten genauso. Das ist der eigentliche Betrug: ein Aufheizen gegen Europa, man lädt den Zorn auf Brüssel ab. Der Bevölkerung ist auch nicht genügend gesagt worden, daß man einen Vertrag nur mit Ja oder Nein beantworten kann, ob man nun das Parlament ist oder das Volk. Ein Vertrag ist international ausgehandelt worden, dann kommt er zurück zur Ratifizierung, zum Beispiel vor's Parlament, das Parlament kann nur ja oder nein sagen. Es kann den Partnern keine Verpflichtung auferlegen. Dasselbe geschieht mit der Bevölkerung. Ich würde da eher sagen: Natürlich seid Ihr frei, Selbstmord zu begehen. Aber es ist doch besser, am Leben zu bleiben.
Läßt sich die Maastricht-Frage im Referendum noch von einem Plebiszit für oder gegen Mitterrand trennen?
Ja, indem Mitterrand verkündet, wenn das Ja siegt, dann gehe ich, ich habe dann meine Pflicht erfüllt, Europa ist auf den Beinen, und mein Nachfolger soll es erweitern. Gegen Mitterrand wählen heißt dann, Ja stimmen. Er wird es nicht tun, weil er, wie alle alten Männer, an der Macht hängt. Interview: Bettina Kaps
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