IM WAHLKAMPF WILL WIRTSCHAFTSMINISTER MÜLLER NICHT PROVOZIEREN: Export löst Dotcom-Wunder ab
Drei Prozent Wachstum jährlich und zwei Millionen neue Arbeitsplätze werde es demnächst geben, versprach Wirtschaftsminister Werner Müller. Besonders von der New Economy seien 750.000 Arbeitsplätze zu erwarten. Ein Boom der Dotcom-Firmen? Das klingt seltsam. Doch Müller versprach das nicht gestern, sondern vor zwei Jahren. So viel zur Verlässlichkeit von Prognosen, wenn sie „Wirtschaftsbericht“ heißen. Trotzdem gab es gestern wieder einen. In dem war zwar vom Dotcom-Wunder nicht mehr, von stolzem Wirtschaftswachstum aber immer noch die Rede.
Jedes Jahr im Juli stellt Müller einen Wirtschaftsbericht vor, der seine Erfindung ist. Den gibt es seit genau vier Jahren, er ist ein Trotz- und Konkurrenzprodukt. Denn die bunte Broschüre mit ihren vielen Bildern und Interviews soll darüber hinwegtrösten, dass das eigentliche Ereignis im Januar stattfindet: Wenn die Bundesregierung ihren Jahreswirtschaftsbericht präsentiert. Das darf dann der Bundesfinanzminister machen, was nicht immer so war. Aber nach der Bundestagswahl von 1998 setzte der damalige Finanzminister namens Oskar Lafontaine durch, dass die Konjunkturabteilung, zuvor im Wirtschaftsministerium, seinem Haus eingegliedert wurde. Nachfolger Hans Eichel übernahm das Beutegut gern.
Also blieb Wirtschaftsminister Müller nur, einen eigenen Wirtschaftsbericht zu erfinden, um auch mal Politik zu machen – und den „Diskurs anzuregen“, wie er es selbst nannte. Das enthielt manche Provokation. Juli 1999: Der parteilose Müller fordert mehr Eigeninitiative für Unternehmen und Arbeitslose. Gemeint war, dass Subventionen gestrichen werden und nur noch „wirklich Bedürftige“ Sozialhilfe erhalten. Juli 2000: Die Beschäftigten müssten flexibler werden. Juli 2001: Wer nicht arbeiten wolle, dem sollten die Leistungen gekürzt werden. Jedesmal geschah, was Müller beabsichtigte: Die Gewerkschaften heulten auf, und die Bundesregierung beeilte sich zu versichern, dass der Wirtschaftsbericht „die persönliche Meinung“ von Herrn Müller sei.
Doch diesmal ist Wahlkampf, und der Minister hat auf jegliche Provokation verzichtet. Mehr als die Losung „Exportoffensive“ wollte er nicht bieten. Denn für Export sind in Deutschland alle: die Parteien, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber. Aber für den Internetboom waren auch schon alle, ohne Erfolg. Und genauso wenig ist zu sehen, warum eine staatliche Exportoffensive die deutsche Ausfuhr wesentlich steigern sollte – indem Deutschland eine Auslandshandelskammer in Pakistan eröffnet? ULRIKE HERRMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen