IM DEUTSCHEN OSTEN KOMMT SCHRÖDERS FAULENZERDEBATTE SCHLECHT AN: Desinteresse, Ignoranz und Beleidigung
Setzt man die Zahl der offenen Stellen im deutschen Osten ins Verhältnis zur Zahl der Arbeitslosen, kommt das Ergebnis 0,04 heraus. Anders ausgedrückt: Um eine offene Stelle streiten sich 25 Arbeitssuchende. Oder: 1,8 Millionen joblosen Ostdeutschen stehen derzeit 72.000 freie Stellen gegenüber. Setzt man die Wahlversprechen von Gerhard Schröder ins Verhältnis zu der von ihm angezettelten Faulenzerdebatte, heißt das Ergebnis: Desinteresse, Ignoranz und Beleidigung. Über dem Bruchstrich steht die jüngste Aussage des Kanzlers: Menschen, die arbeiten können, aber nicht wollen, dürfen nicht mit Solidarität – also finanzieller Stütze – rechnen. Unter dem Bruchstrich stehen Schröders Wahlversprechen: Er will den Erfolg seiner Politik vor allem am Abbau der Arbeitslosigkeit und der Entwicklung seiner Chefsache – dem Aufbau Ost – messen lassen.
Faulenzer, Drückeberger – betrachten wir zunächst den Zähler: Niemand, der sich ernsthaft mit Arbeitslosigkeit befasst, käme auf die Idee, die Schuld für die andauernd düstere Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt faulenzenden Ostdeutschen zuzuschreiben. Richtig ist vielmehr, dass die industrielle Basis jenseits der Elbe einfach nicht tragfähig ist, die Politik keine funktionierenden Stützmechanismen entwickelt hat, ihre Förder- und Arbeitsmarktpolitik schlichtweg versagt. Dabei hat die rot-grüne Koalition noch Glück im Unglück: Lediglich der seit 1998 wieder angestiegenen Abwanderung nach Westen ist es zu verdanken, dass die Arbeitslosigkeit im Osten seit Helmut Kohls Abgang auf hohem Niveau stagniert. „Der kollektive Freizeitpark Deutschland“ – schon einmal versuchte ein deutscher Kanzler den Arbeitslosen die Schuld an der Massenarbeitslosigkeit zu geben. Schon Kohls damalige Attacke war ein Eingeständnis: Ich bin konzeptlos. Schröders aktueller Ritt ist nichts anderes.
Auf den Nenner gebracht: Die Ost-Politik des Kanzlers fällt weit hinter die seines Vorgängers zurück. Auf der Habenseite steht ein wenig erfolgreiches Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit, eine von PR-Beratern organisierte Besichtigungstour und die Planstelle „Staatsminister Ost“. Schröders Chefsache war seinerzeit keine Liebesgeburt, sondern wahltaktisches Kalkül. Die letzten beiden Bundestagswahlen wurden durch das Stimmverhalten der Ostdeutschen entschieden. Will Schröder weiter regieren, sollte er lieber Konzepte für Menschen entwickeln, die arbeiten wollen, aber nicht können. Sonst werden die ihm beim nächsten Urnengang erklären: Faule Regierungschefs dürfen nicht mit Solidarität rechnen. NICK REIMER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen