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Archiv-Artikel

„I ha di gärn, vielleicht!“

NACHBARSCHAFT Rund 250.000 Deutsche leben in der Schweiz, so viele wie noch nie. Doch die Eidgenossen tun sich schwer mit den Zuzüglern. In Zürich lernen die deutschen „Gummihälse“ in Integrationskursen deshalb, wie wichtig Kompromisse, der Konjunktiv und das dehnende e sind. Schnell wird da klar: Das ist ja richtiges Ausland!

Deutsche in der Schweiz

Auswandern: Die Schweiz ist mit Abstand das beliebteste Zielland deutscher Auswanderer, vor den USA. 2007 waren es laut Statistischem Bundesamt 23.459, 2008 nach vorläufigen Zahlen 29.139. ■ Dort wohnen: In der Schweiz leben 233.352 Deutsche (Stand Ende 2008), rund 30.000 mehr als 2007, wie das Schweizer Bundesamt für Migration auflistet. Damit sind die Deutschen nach den Italienern die zweitgrößte Ausländergruppe. ■ Und zurück: Der Wege über die deutsch-schweizerische Grenze ist keine Einbahnstraße. 2008 zogen 8.216 Deutsche aus der Schweiz wieder zurück nach Deutschland. 2007 waren es knapp 1.500 weniger, die diesen Schritt gingen.

VON MARCO LAUER

Die Deutschen kommen. Sie sprechen leise, als sie den Raum betreten. Ein wenig schüchtern blicken sie um sich, lächeln, keine Vorurteile bestätigen jetzt, laut reden beispielsweise oder trampelig auftreten, der Ruf ist angekratzt genug, und man möchte ja leben hier und auskömmlich sein, schließlich ist man fremd, Ausländer, Migrant.

Es ist kurz vor sieben Uhr an einem herbstlichen Abend in Zürich. „Integrationsabend für Deutsche in der Schweiz.“ Der zweite seiner Art, einen Monat nach der Pilotveranstaltung, „mit der man sehr zufrieden war“. In der feinen Zürcher Innenstadtadresse St. Peter Hofstatt 6, im Lavatersaal, Eichenparkett, Stuck an den Decken, große Fenster mit Blick auf einen kopfsteingepflasterten Platz, begrüßt die Integrationsförderung der Stadt Zürich die deutschen Ankömmlinge, zwischen sechs Wochen und sechs Monaten erst wohnhaft hier. Auf einem Tisch liegt Lektüre für die Neuen aus. „Grüezi und Willkommen. Die Schweiz für Deutsche.“ Oder: „Grüezi Gummihälse. Warum uns die Deutschen manchmal auf die Nerven gehen.“ Gummihälse? Der Begriff kommt daher, so erklärt es Bruno Ziauddin, der Autor des Buches, weil deutsche Nachwuchsärzte immer so heftig nicken, wenn sie mit Chefärzten sprechen. Allgemein steht es aber auch für die opportunistische Art der Deutschen, zumindest in der Wahrnehmung der Schweizer.

Man setzt sich, 48 Männer und Frauen, zwischen 25 und 45 Jahre alt, gut ausgebildet, Kleidung in dezenten Farben, bequeme Schuhe, Deutsche und somit momentan nicht gerade weit oben angesiedelt auf der Beliebtheitsskala der Eidgenossenschaft.

Christiana Baldauf begrüßt die Gäste mit einem herzlichen „Grüezi“. Erläutert anhand dessen eine erste Grundlektion. Wolle ein Deutscher diese Begrüßung sympathiegewinnend anwenden, dürfe er auf keinen Fall das „e“ vergessen. Bitte kein „Grüzi“ zum Schweizer. Baldauf ist Leiterin der Integrationsförderung der Stadt Zürich, eine große Frau mit weicher Stimme, befähigt zu ihrer Tätigkeit durch ein Studium der Sozialpädagogik und eigenem Migrationshintergrund, ihre Mutter Italienerin, der Vater Deutscher. Hinter ihr sieht man auf eine Leinwand projiziert die deutsche und die schweizerische Fahne, übereinander gekreuzt. Man sei zu dem Schluss gekommen, sagt Baldauf, dass für einen solchen Kurs Bedarf bestünde. Um gegenseitige Missverständnisse aus dem Weg zu räumen oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Weil die Schweiz eben doch nicht nur ein weiteres Bundesland sei, wie einige Zuwanderer irrtümlich glaubten, sondern richtiges Ausland. Was derzeit vielleicht ein wenig deutlicher zu spüren ist als sonst.

Im Juni erklärte die Schweizer Zeitung Blick, die in der Eidgenossenschaft die einfache Wahrheit in fünf Zentimetern Größe druckt, Peer Steinbrück zu „einem der meistgehassten Menschen in der Schweiz“. Jenen Finanzminister aus dem zuweilen übermächtig erscheinenden Nachbarstaat im Norden, der den Steueroasen, also auch der Schweiz, mit der Kavallerie drohte. Und sie dann noch mit einer afrikanischen Bananenrepublik verglich, sollte sie sich weiter weigern, ihr Bankgeheimnis aufzugeben. Daraufhin schlug im Bundeshaus in Bern ein Hinterbänkler der Schweizer Christdemokraten zurück: „Steinbrück erinnert mich an jene Generation von Deutschen, die vor sechzig Jahren mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde durch die Gassen gegangen sind.“

Und mittendrin die Deutschen in der Schweiz. Von denen es im Land so viele gibt wie nie zuvor – an die 250.000. Womit sie gleich hinter den Italienern liegen, vor den Portugiesen und den Serben. Allein in den letzten knapp fünf Jahren, seitdem im Juni 2004 das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU wirksam wurde, hat sich die Zahl der Deutschen mehr als verdoppelt, strömen jeden Monat fast dreitausend in das Land mit den Bergen, mit Vollbeschäftigung und hohen Gehältern. Zehn Prozent der 380.000 Einwohner Zürichs haben einen deutschen Pass.

Was nur zahlenmäßig schon für gewisse Ängste sorge, sagt nun Christiana Baldauf, während sie eine Folie auflegt, darauf zu sehen eine Blick-Schlagzeile: „Wie viele Deutsche erträgt die Schweiz?“ Ein kurzes Lachen geht durch die Reihen, jedoch mit einem Schuss Unsicherheit. Erst als Baldauf sagt, dass die Medien die Stimmung im Land unnötig anheizen würden, wird jene im Raum wieder gelöster. Plötzlich würden die Deutschen zu Sündenböcken, sagt Baldauf, lösten damit die Albaner ab, die ihrerseits wiederum vor Jahren den Italienern gefolgt seien.

Dabei sei doch im Grunde das Verbindende zwischen Deutschen und Schweizern stärker als das Trennende. „Wir haben beide eine Arbeits- und Leistungsgesellschaft,“ sagt sie, „einen christlichen Hintergrund und dieselbe Sprache.“ Und Sparsamkeit genauso wie Fleiß stünden bei beiden Völkern über Genuss und Verschwendung. Trotzdem habe man heute aber hauptsächlich wegen des Trennenden eingeladen. Um es zu erkennen. Und natürlich, um es abzubauen. Um den Deutschen zu helfen, nicht in die vielen kleinen Fallen der eidgenössischen Alltagskultur zu treten. Die in der Summe dazu führten, dass den Schweizern die Deutschen so fremd vorkämen.

Es ist der Beginn des didaktischen Teils des Abends. Die Teilnehmer machen sich länger auf ihren Stühlen, zücken Block und Bleistift, das Gehörte zu konservieren für ihr neues Leben in der Schweiz, in das sie in eineinhalb Stunden zurückkehren.

Sehr viel Wert wird auf Kompromissbereitschaft gelegt. Das ist eine davon. Oder wie Baldauf es formuliert: „Vor Kollegen oder auch Untergebenen den starken Mann zu markieren, wird nicht gerne gesehen.“ Gerade für die vielen deutschen Arbeitnehmer, die in der Schweiz in Kaderpositionen, also in leitender Stellung, arbeiteten, sei das nicht ganz einfach. Weil man in Deutschland vielleicht schneller als schwach gelte. Auch das zuweilen eher forsche Gebaren im deutschen Arbeitsalltag, das Vorpreschen mit seinen Ansichten, löse hierzulande eher Befremdung aus. „Wenn jemand bei einem Projekt eine fixfertige Idee im Kopf hat“, erklärt Baldauf, „sollte er sie in Besprechungen trotzdem nur tröpfchenweise einbringen.“ Und, ganz wichtig: Kritik möglichst weich verpacken, einhüllen nahezu. Auf keinen Fall die offene Konfrontation suchen.

Wer als Deutscher die gebotene Zurückhaltung im Job übt, den Konjunktiv verinnerlicht und auch das Grüezi richtig intoniert, der stößt womöglich bei allem Schwyzerdütsch, das darüber hinausgeht, an seine Grenzen

Man könnte das so veranschaulichen: Der Schweizer mäandert dem eigentlichen Ziel seiner Kommunikation eher entgegen wie ein unbegradigter Fluss, wohingegen der Deutsche darin manchmal vielleicht ein wenig einer Stromschnelle gleiche. Und was für das Ökosystem gut ist, könnte ja auch für den sozialen Umgang nicht unbedingt schlecht sein. Für den Einstieg in Kritik wird beispielsweise folgende Formel gerne verwendet: „Aber weisch. Also, das isch scho absolut positiv, was Du saisch (sagst). Aber weisch, vielleicht chönnt (könnte) …“

Überhaupt der Konjunktiv. Ihm kommt in der Schweiz besondere Bedeutung zu. Im Restaurant beispielsweise. „Ich bekomme ein Bier“, eine Formel, die in Deutschland durchaus verbreitet ist, kommt hier genauso wenig an wie das Rufen nach der Rechnung aus größerer Distanz. Viel besser dagegen ein doppelt gesicherter Konjunktiv: „Wäre es bitte möglich, noch ein Bier zu bekommen vielleicht?“

Wer nun als Deutscher gelernt hat, sich anzupassen an gebotene Zurückhaltung im Job, den Konjunktiv verinnerlicht und auch das Grüezi richtig intoniert, der stößt womöglich bei allem Schwyzerdütsch, das über das Grüezi hinausgeht, an seine Grenzen. Weil er in ein Dilemma gerät, aus dem auch Christiana Baldauf nicht zu helfen vermag. Denn spricht ein „Dütscher“ weiter Hochdeutsch, gilt er zuweilen als zu überheblich, um sich anzupassen. Versucht er sich aber in Schweizerdeutsch, gerät er in Verdacht, sich darüber lustig zu machen.

Im Lavatersaal ist es mittlerweile viertel vor neun, die Veranstaltung nähert sich dem Ende, einige beißen nach langem Arbeitstag ein Gähnen weg. Man hat viel gelernt über feine Unterschiede, ist durch sieben Jahrhunderte Schweizer Geschichte geeilt von Tell über den Rütlischwur bis zu Christoph Blocher, hat gehört, was man selbst schon erfahren hat, dass es nicht einfach ist, mit Schweizern Freundschaften zu schließen, käme es aber einmal so weit, dann wären sie tief und ehrlich. Man bekam erklärt, was einem zumindest nicht völlig exotisch vorkam: dass in Mehrfamilienhäusern die Hausordnung ein fast heiliges Dokument ist.

Und nun kommt Christiana Baldauf zum letzten Themenblock des Abends: Herzensangelegenheiten. Natürlich nur grenzüberschreitende. Da dürfte der deutsche Teil eines Liebespaares nicht zu schnell zu viele Emotionen erwarten. Und er müsse sich daran gewöhnen, dass ein „Ich liebe dich“ in der Schweiz heißt: „I ha di gärn!“ Wobei dieses „Ich hab dich gern“ keine abgeschwächte Form von Liebe bedeute. „Sie dürfen das nicht falsch verstehen,“ sagt Baldauf. Dass es auch auf dieser Ebene klappen kann zwischen den beiden Völkern, zeigen die neuesten Zahlen des Schweizer Statistikamtes: Über 20.000 Deutsche sind mittlerweile verheiratet mit Schweizern. Vielleicht sind die Unterschiede doch nicht so groß.