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Panarabische Ikone: Dies Café in Baghdad ist Umm Kulthum gewidmet Foto: Murtadha Al-Sudani/Anadolu Agency/imago

Am Sonntag saß ich in der Elbphilharmonie und erlebte etwas, das mich selbst überraschte: In einem der bedeutendsten Konzertsäle Europas erklang Musik, die von Umm Kulthum inspiriert ist, – der größten Sängerin der arabischen Musikgeschichte, 1975 gestorben, aber durch ihre Musik heute noch lebendig. Fünfzig Jahre nach ihrem Tod wird ihre Musik in Hamburg gefeiert. Allein diese Tatsache erzählt bereits eine Geschichte.

Umm Kulthum war nicht einfach eine Sängerin. Sie war ein Phänomen. Man nannte sie die „vierte Pyramide“ oder den „Stern des Orients“. Im Jahr 1924 erschien die erste Aufnahme eines Liedes von ihr. Davon wurden 18.000 Schallplatten verkauft. Sie gehörte zu den berühmtesten Künstlerinnen der Welt. Oft sang sie ohne Mikrofon, weil ihre Stimme einen ganzen Saal füllen konnte. Ihre Konzerte waren keine Darbietungen – sie waren Zustände. Dieser Zustand heißt Tarab – ein Begriff, der schwer zu übersetzen ist. Er beschreibt kollektive emotionale Ekstase, ein Sich-Verlieren in der Musik.

Geboren Ende des 19. Jahrhunderts, begann Umm Kulthum ihre musikalische Laufbahn als Kind. Gemeinsam mit ihrem Vater sang sie religiöse Lieder auf Festen. Weil es für Mädchen gesellschaftlich nicht akzeptiert war, öffentlich aufzutreten, trug sie Jungenkleidung. Schon hier zeigt sich: Diese Stimme musste sich ihren Raum erst erkämpfen.

Legendär ist ihr einziges Konzert in Paris 1967. Es wurde von Le Monde als eines der größten Konzertereignisse in Paris gewürdigt. Der Veranstalter schlug vor, sie solle zwei Stunden singen – mit drei Liedern. Er hielt das für großzügig. Am Ende dauerte der Abend fünfeinhalb Stunden. Drei Lieder. Erst danach verstand Europa, dass Umm Kulthums Musik einer anderen Zeitlogik folgte.

All das wurde nun in der Elbphilharmonie spürbar. Für viele Deutsche war es eine Entdeckung. Weil sie Umm Kulthum nicht kannten. Wie kann das sein? Außerhalb Frankreichs war Umm Kulthum in Europa lange kaum präsent.

Für viele Menschen mit arabischer Geschichte hingegen ist ihre Stimme Teil der eigenen Biografie: eine Stimme der Kindheit, der Eltern, der Erinnerung. An jedem Ort in Syrien war Umm Kulthums Stimme präsent – im Radio, im Fernsehen, ihre Musik wurde in Bussen und Geschäften gespielt.

Dass der große Saal mit über 2.100 Plätzen ausverkauft war, ist kein Zufall. Dieses Konzert hat gezeigt, wie migrantische Kultur nicht am Rand, sondern im Zentrum der deutschen Kulturlandschaft stattfinden kann. Sichtbar. Selbstverständlich.

Nicht frei von Widersprüchen

Hussam Al Zaher

ist syrischer Journalist und Politikwissenschaftler. 2015 ist er nach Deutschland geflüchtet. In Hamburg hat er das Magazin Kohero gegründet, das Themen rund um Migration verhandelt.

In einer patriarchalen Gesellschaft war Umm Kulthum eine emanzipatorische Ikone. Doch ihre Geschichte ist nicht frei von Widersprüchen. Umm Kulthum steht auch für etwas anderes: Sie stand dem ägyptischen Staat sehr nahe – zunächst dem Königreich, später dem Regime von Gamal Abdel Nasser.

Genau hier setzt die berühmte satirische Episode des Dichters Ahmed Fouad Negm an. In einem Gedicht erzählt er von einem Studenten namens Ismail, der von Umm Kulthums Hund gebissen wird. Der Fall geht zur Polizei, die Verletzung wird bestätigt – und dennoch werden Umm Kulthum und ihr Hund von jeder Verantwortung freigesprochen. Begründung: ihre Verdienste für den Staat.

Auch in den Straßen von Jerusalem verewigt: das Andenken an Umm Kulthum Foto: Abir Sultan/dpa

Die Pointe folgt in der Realität. Der Student sagt später in einem Interview: „Ich bin glücklich, denn der Hund, der mich gebissen hat, war der Hund von Umm Kulthum.“ Negm legte noch nach: Er verbreitete die Anekdote, als Umm Kulthum sein Gedicht gelesen habe, habe sie gesagt: „Ich werde das Haus dessen zerstören, der dieses Gedicht geschrieben hat.“ Diese Geschichte erzählt von Macht, Nähe zur Elite und von den Brüchen hinter dem Mythos. Und vielleicht macht genau das Umm Kulthum so relevant bis heute.

Besonders berührend machte den Abend in der Elbphilharmonie, dass Musikerinnen und Musiker aus arabischen Ländern, aus dem Iran und aus Deutschland gemeinsam auf der Bühne standen. Es wurde auf Arabisch und Farsi gesungen. Es wurde gelacht, erinnert, geschwiegen, auch Tränen vergossen. Es war ein Abend, der gezeigt hat, dass Musik nicht nur gehört werden will. Sie will verstanden werden – als Geschichte, als Migration, als Emotion.

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