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Hundert Jahre ohne Auto

■ Beim runden Geburtstag der Ostertorschen Dorothee Koch im Heim Friedehorst

Die Droschke klappert über das Kopfsteinpflaster durchs Viertel. Doras Vater ist Fuhrunternehmer und nimmt seine Tochter noch ein Stück mit auf ihrem Schulweg zur Lessingstraße. Die Straßen im Ostertorviertel sind bereits belebt, einige andere Fuhrwerke sind unterwegs, viele Fußgänger, einige mit Handkarren. Aber kein einziges Auto stört das Treiben. Was sich anhört wie das Zukunftsszenario „autofreie Innenstadt“ ist eine Kindheitserinnerung von Dorothee Koch. Am 20.5.1896 wurde sie in Bremen geboren, gestern hat sie ihren 100. Geburtstag gefeiert.

Wenn Frau Koch aus ihrem Leben erzählt, vermittelt sie den Eindruck eines wandelnden bremischen Geschichtsbuchs. Der Stadt hat sie in ihrem langen Leben nie den Rücken gekehrt. Aufgewachsen ist sie in der Wernerstraße im Ostertor. Als älteste von acht Geschwistern mußte sie neben der Schule auch noch „Zweitmutter“ für die jüngeren sein. Immer wieder erzählt sie von ihrer Konfirmation im Jahre 1910 im Bremer Dom und der Zeit in der Lessingschule.

Nach der Schulzeit hat sie bei einem Weinhändler gearbeitet, später in verschiedenen Haushalten in ganz Bremen. Das war zu Zeiten des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik. Nur im Zweiten Weltkrieg war sie vier Jahre lang mit ihrem Sohn in Sachsen, um sich vor den bevorstehenden Luftangriffen in Sicherheit zu bringen. Nach der Rückkehr und dem Kriegsende war Improvisation gefragt: Produktion und Vertrieb von Handwaschpasten war wohl nicht das große Geschäft, aber es war mit einfachen Mitteln durchführbar und reichte zum Überleben. Durch ganz Bremen fuhr Dorothee Koch mit ihrem Fahrrad, um die Waschpaste auszuliefern. Oft war sie dazu stundenlang unterwegs, Auto fahren aber wollte sie auch später nicht, als das Geld dazu gereicht hätte.

Heute lebt Frau Koch im Nordbremer Pflegeheim Friedehorst. Als sie noch gesund war, hat sie ein Leben im Altersheim immer abgelehnt. Doch nachdem ihr beide Beine nach einer Zuckerkrankheit amputiert werden mußten und sie sich nicht mehr selbst versorgen konnte, zog sie 1989 nach Friedehorst. „Mir gehts hier gut“, sagt sie augenzwinkernd.

Ihren Geburtstag hat die Hundertjährige offensichtlich genossen. Bei dem als Geburtstagsgeschenk organisierten Ausflug in die Innenstadt und ins Viertel gab es ihre Lieblingsorte – den Dom, den Roland und die Lessingschule – zu sehen. Und gestern beim Sektempfang mit Verwandten und MitbewohnerInnen konnte sie Geschichten erzählen, die an diesen Plätzen, aber schon am Anfang des Jahrhunderts stattgefunden hatten. sg

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