: Homophobe Hörleistung
■ betr.: „Wie im Phantomschmerz“, taz vom 12. 6. 97
[...] Jüngstes Beispiel für eine Tendenz in der taz, über Ereignisse nicht schlicht zu berichten, sondern sie zu interpretieren und dabei so zu tun, als sei es ein Bericht, um dann das Ganze auch noch kommentierend zu verwerfen, ist der Artikel über die Veranstaltung mit Judith Butler am 10. 6. in der Berliner Staatsbibliothek.
Wo auch immer Mariam Niroumand am Dienstag gewesen ist, dort wo ich war, war sie nicht. „Man kommt nicht umhin an eine Messe zu denken“, schreibt sie einleitend. Ich jedenfalls befand mich nicht in einem religiösen Gebäude, sondern im höchst säkularen Otto- Braun-Hörsaal der Staatsbibliothek. Ich lauschte auch nicht einer „eindringlich und getragen“ vortragenden Predigerin, die zu „längst Konvertierten“ sprach. Ich folgte vielmehr den Ausführungen einer Philosophin, die sich mit der Relektüre eines antiken Stoffes, Sophokles' „Antigone“, befaßte. Daß Judith Butler das vor dem Hintergrund einer mehr als aktuellen Frage tat, nämlich was bedeutet Verwandtschaft in einer Zeit, in der weltweit Millionen von Kindern die Erfahrung von Flucht und damit verbunden den Verlust ihrer Familien machen, in einer Zeit, in der Kinder in einer Vielzahl neuer heterosexueller und lesbischer und schwuler Familienarrangements aufwachsen, die nicht der Norm der Blutsverwandtschaft folgen, ist Niroumand Anlaß für besserwisserische Schaumschlägerei, die ein ums andere Mal beweist, daß sie nichts verstanden hat. Nur wer sich beispielsweise so sicher und selbstverständlich wie Niroumand auf der Seite der Norm zu wissen scheint, kann es sich leisten, sich ignorant über den Unterschied zwischen Norm und sozialen Praktiken hinwegzusetzen. Denn im Unterschied zu Niroumands Behauptung, „schwule Familien“ seien „längst eine Norm“, ist es wohl eher so, daß Lesben und Schwule zwar begonnen haben, andere soziale Praktiken, d. h. eben auch andere Formen von „Familie“ zu entwickeln, daß dies aber bereits eine Norm sei, ist wohl stark zu bezweifeln. Ich sehe nicht, welche Institution in unserer Gesellschaft lesbische und schwule „Familien“ fördert, wer in dieser Gesellschaft – außer Lesben und Schwulen selbst – es begrüßenswert fände, würden Kinder in lesbischen und schwulen Familien aufwachsen. Daß es Butler gerade um die Frage zu tun ist, wie diese sozialen Praktiken auch symbolisch installiert werden können, ist Niroumands Aufmerksamkeit offensichtlich entgangen.
Und wer, wie Niroumand, Butlers Hinweis auf die Verurteilung von Homosexualität durch den Vatikan als ewiggestrige lächerliche Geste des „Phantomschmerzes“ abtut, hat noch immer nicht verstanden, wie Diskurse, Macht und Gewalt zusammenhängen. „Man ahnt schon, worauf das hinausläuft“, um Niroumand noch einmal zu zitieren. Statt sich auf die intellektuelle und politische Herausforderung von Butlers Denken einzulassen, wird Häme ausgeschüttet. Viele seien nur gekommen, schreibt sie, „um die sich hier formierende philosophische Legitimation einer sexuellen Präferenz zu hören“. Da Niroumand wohl kaum mit den vielen ZuhörerInnen gesprochen haben dürfte, scheint mir das eher ein Hinweis auf Niroumands eigene homophobe „Hörleistung“ zu sein, denn als die Wiedergabe der Motivation der anderen. Butlers Projekt ist die Frage nach den Grenzen des kulturell legitim Lebbaren. Das ist etwas gänzlich anderes als die „Legitimation einer sexuellen Präferenz“. Wer so argumentiert, hat nicht verstanden, daß Butler Kategorien wie „sexuelle Präferenz“ gerade in Frage stellt. Und es zeigt nicht zuletzt, wie nötig ein Denken wie das von Judith Butler ist, um das homophobe kulturelle Unbewußte bloßzulegen. Sabine Hark, Berlin
Wieder einmal ein Artikel, in dem eine glaubt, weil jemand sehr populär ist, reicht es, gegen „die Gemeinde der längst Konvertierten“ zu wettern, deren Predigerin im „Phantomschmerz“ Feindbilder aufbauen muß – hier der Papst –, um selbst seltsame Glaubensthesen – „Aids als eine quasi sozialverhängte Strafe“ – verbreiten zu können. Ein ziemlich einfaches Strickmuster für einen Text, dessen einziger Zweck Polemik zu sein scheint: Die Autorin selbst hat natürlich längst gemerkt, was der „Gemeinde der längst Konvertierten“ nicht aufgefallen ist! Und was hat sie sogleich erkannt? Daß im ach so freien Amerika nur noch der Papst und vielleicht die Liberalen, aber sonst doch niemand für family values schwärmen, und es „real existierende Lebenspraxis, in der schwule Familien längst eine Norm sind“, gibt; daß man sich darüber aufregen muß, „diejenigen, für die es keinen legitimen Platz in der Kultur gibt als Todgeweihte und Aids als eine quasi sozial verhängte Strafe“ zu bezeichnen; und überhaupt, daß Butler „eine Philosophie der sexuellen Präferenz“ macht und viele nur gekommen sind, um genau diese zu hören – wobei Judith Butler es natürlich nötig hat, gegen den Papst zu wettern, sie wäre „ohne den Papst ziemlich uffjeschmissen“.
Mich würde es schon interessieren, ob die Autorin wirklich glaubt, daß in Amerika und vor allem in Lateinamerika, wo es wirklich von Bedeutung ist, daß der Papst gegen Homosexualität zu Felde rückt, schwule Familien längst zur Norm geworden sind? Dann fände ich es allerdings sehr spannend, worauf sie ihre Meinung stützt. Kann sie wirklich nicht differenzieren zwischen den biologischen Ursachen der Krankheit Aids, um die es Butler nicht ging, und deren soziale Auswirkungen? Und würde sie wirklich behaupten wollen, daß Aidskranke nicht sozial ausgegrenzt werden?
Nun, und wenn sie wirklich glaubt, daß Judith Butler die „Philosophie einer sexuellen Präferenz“ macht, dann muß man ihr unterstellen, von Butler nichts gelesen – und wohl auch nur sehr selektiv zugehört zu haben. Denn Judith Butler geht es darum zu dekonstruieren, sie bezieht sich hauptsächlich auf den zwischengeschlechtlichen Bereich, und sie will „Philosophie der sexuellen Präferenz“ auflösen. Von daher ist es schon zynisch, ihr diese ohne inhaltliche Erklärung selbst zu unterstellen. Die freundlichste Begründung, die mir hierfür einfallen würde, ist völlige Unkenntnis ihrer Arbeit. Dies würde vielleicht auch erklären, daß eine Autorin, der ich aufgrund der taz – vielleicht zu gutgläubig – eine linke Tendenz unterstellen würde, sich zu Thesen hinreißen läßt, von denen ich beim besten Willen nicht glauben kann, daß sie sie so vertritt. Mir scheint es eher, daß sie sie dazu benutzt, ihre eigenen inhaltsleeren Aussagen zu verwischen. [...]
Ich glaube auch, daß Butlers Position Angriffspunkte liefert. Denen wird man allerdings mit Polemik nicht gerecht. Simone Tosana, Berlin
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