Hohe Krebsrate durch Mülldeponie: Zweifel an der Expertise
Forscher geißeln ein Gutachten zur hohen Krebsrate in Cloppenburg als unwissenschaftlich: Die Deponie komme als Ursache für die Erkrankungen in Betracht.
In der Debatte um die auffallend hohe Krebsrate im Süden Cloppenburgs haben ExpertInnen schwere Vorwürfe gegen die niedersächsischen Gesundheitsbehörden erhoben. Ministerium und Landesgesundheitsamt (NLGA) würden der Ursache der Erkrankungen nicht nachzugehen, kritisierten der Bremer Epidemiologe Rainer Frentzel-Beyme und die Toxikologin Irene Witte von der Uni Oldenburg in zwei Stellungnahmen, die der taz vorliegen. Die Mülldeponie Stapelfeld sei die einzige plausible Erklärung für die vielen Krebsfälle.
Ihre Kritik zielt zunächst auf Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP), der erst unlängst in der Antwort auf eine Anfrage der Grünen beteuert hatte, die Deponie scheide als Ursache für die Erkrankungen aus, weswegen es auch keinen Anlass für weitere Untersuchungen gebe.
Diese Aussage sei "wissenschaftlich in keiner Weise gerechtfertigt", schreibt Witte. Vielmehr führe das Ministerium, das sich in seiner Antwort auf ein Kurzgutachten des Toxikologen Klaus-Michael Wollin vom NLGA stützt, "unhaltbare Argumente" an und ignoriere selbst gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse.
Die Bürgerinitiative "Verkehrs- und Verschönerungsverein Cloppenburg" (VVC), die die Häufung von Krebserkrankungen im Umfeld der Deponie aufgedeckt hatte, forderte das NLGA auf, das Gutachten "sofort und öffentlich" zurückzunehmen. "Es kann nicht sein, dass unter Verweis auf dieses Gutachten seit drei Jahren eine Ursachenforschung verhindert wird", sagte Bernard Hinrichsmeyer.
Dass die Deponie, auf der auch Lindan und nach Aussage von Zeitzeugen "ganze LKW und Tankwagen" eingelagert wurden, Schadstoffe abgibt, ist unstrittig. Untersuchungen wiesen deutliche Belastungen des Deponierohgases mit krebserregenden oder als krebsfördernd geltenden Stoffen nach. Bei starkem Regen läuft giftiges Sickerwasser in ein benachbartes Gewässer.
Das Gutachten des NLGA schließt allerdings unter Verweis auf die "hohen Verdünnungsraten" und die "meteorologischen Verhältnisse" jeden Zusammenhang mit den Krebserkrankungen der AnwohnerInnen aus. Ohne konkrete Messungen sei eine solche Aussage "wissenschaftlich nicht zulässig", sagt Witte - zumal die betroffenen Wohngebiete in Hauptwindrichtung liegen.
"Falsch" sind laut Witte auch die entwarnenden Aussagen der Behörde zu möglichen Kombinationswirkungen verschiedener Chemikalien. Insbesondere wenn membranschädigende Substanzen wie Lösungsmittel ins Spiel kämen, könne dies die krebserzeugende Wirkung anderer Stoffe wie Benzol oder des von der Deponie freigesetzten Vinylchlorids deutlich erhöhen.
Im Fall Stapelfeld sei "durchaus von einer sich potenzierenden Wirkung mehrerer niedrig konzentrierter Einwirkungen bei Menschen auszugehen", sagt auch Frentzel-Beyme.
Witte forderte, alle vorhandenen Messdaten offen zu legen und, etwa mit Urinuntersuchungen, einer möglichen Schadstoff-Belastung der AnwohnerInnen nachzugehen. Das Krebscluster Cloppenburg, sagt Frentzel-Beyme, sei bisher ein "Musterbeispiel für inkompetente Behandlung und fehlende Maßnahmen".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko