Hörend durch Hannover: Auf den Spuren der Fremden
Beim „Büro für Eskapismus“ spielt das Publikum die Hauptrolle: Es lernt per Audiowalk durch Hannovers City, die Stadt mit anderen Augen zu sehen.
Sie spricht Anweisungen aus: „Tu, was dir die Stimme sagt, wenn sie es dir sagt! Bei manchen Aufforderungen wird dir das nicht leichtfallen. Natürlich hast du jederzeit die freie Wahl.“ Ein unbehagliches Gefühl stellt sich ein.
In den Fußspuren einer fremden Person zu laufen, ist das Ziel des Hör-Spiels „Walking in Your Shoes“, den das Büro für Eskapismus in Hannover organisiert. Die Kopfhörer mitsamt einem Beutel mit weiteren Utensilien holt man sich im Buchladen ab, dann kann es losgehen.
Eine männliche Stimme übernimmt das Mikrofon, später stellt er sich als Charlie Matussek vor. „Vielleicht finde ich hier ja etwas Nettes für ihn, eine gewitzte Postkarte“, überlegt er vor dem Buchladen. Unvermittelt taucht man in seine Gedanken ein und läuft mit ihm durch Hannovers Innenstadt. Wie fremdgesteuert folgt man den Schritten und Gedanken des Mannes, den man in der nächsten Stunde kennenlernen wird.
Perspektivenwechsel für mehr Empathie
In Großstädten prallen verschiedenste Lebensrealitäten aufeinander. Nicht immer gelingt es, für andere Perspektiven Verständnis zu entwickeln oder auch nur, sie zu bedenken. Genau hier setzt das Hör-Spiel an: „Wir wollen ermöglichen, den Stadtraum aus verschiedenen Perspektiven zu erleben und dadurch Empathie fördern“, sagt Katharina Laage vom Büro für Eskapismus. Gemeinsam mit Miriam Wendschoff und David Bakke hat sie den Audiowalk durch Hannovers Innenstadt konzipiert.
Dabei bleibt es nicht bei der Perspektive von Charlie Matussek. Insgesamt vier Hör-Spiele hat das Büro gemeinsam erarbeitet. Jede Geschichte steht für sich, alle vier haben aber Überschneidungen. Die Geschichten sind fiktiv, basierend auf zwölf Interviews, die das Kollektiv geführt hat. Der Verlauf der Erzählungen bildet den Pfad, dem die Zuhörer*innen folgen.
Dabei geht es auch darum, sich selbst im Erzählten wiederzuentdecken, sagt Bakke: „Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden.“ Gefunden hätten sie ihre Interviewpartner*innen über einen offenen Aufruf. Um die eigenen Netzwerke zu überwinden, seien sie aber auch gezielt auf Gruppen zugegangen – beispielsweise die Catcalls of Hannover, die sich öffentlich gegen sexuelle Belästigung wehren, oder die Straßenzeitung Asphalt.
Das Büro für Eskapismus entwickelt seit 2019 verschiedene Hör-Spiele, die sich zwischen Theater und Escape Room bewegen. Bei vorherigen Projekten ging es immer um ein gemeinsames Spielerlebnis in Gruppen, sagt Laage. Ein Hör-Spiel zu konzipieren, welches für eine einzelne Personen erlebbar ist, sei eine neue Erfahrung gewesen.
Mit Charlie Matussek entdeckt man die Innenstadt aus den Augen eines Wohnungslosen. Habe ich genug Kleingeld, um mit der Bahn zu meiner Gartenlaube zu gelangen? Wieso gibt mir niemand seine Fahrkarte? Das anfängliche Unbehagen, einer fremden Stimme zu folgen, schwindet nach einer Weile. Das Hör-Spiel entwickelt einen Sog, immer mehr fühlt man sich in die Perspektive ein. Die Geschichte bleibt dennoch fragmentiert. Nicht alles über „Herrn Matussek“, wie er sich selbst immer wieder anspricht, erfährt man.
Durch das Verweben der verschiedenen Interviews entsteht eine vielschichtige Person. So vermeiden die Macher*innen eine klischeehafte oder einseitige Darstellung. Charlie Matussek beschäftigt nicht nur die Frage, wo er Geld für eine Fahrkarte oder etwas zu Essen herbekommt. Er unterhält sich in Gedanken mit einem verstorbenen Freund, und er überlegt, ob er wohl per Postkarte mit seinem Sohn Kontakt aufnehmen kann.
Matusseks Sohn kann man in einem der drei anderen Hör-Spiele kennenlernen. Weitere Perspektiven sind die einer Journalistin, die um das Sorgerecht ihres Kindes kämpft, und die einer Studentin, die an sozialer Phobie leidet.
Die Auswahl des Hör-Spiels erfolgt assoziativ auf Grundlage einer Fotocollage – lediglich kurze Stichpunkte in Form von Content Notes geben die Macher*innen an, damit die Zuhörer*innen nicht mit Inhalten konfrontiert werden, die sie partout nicht hören möchten. Aufgeführt sind beispielsweise psychische Gesundheit, Rassismus und Tod.
Wachsamkeit und Tempo
Mit den Augen der Protagonist*innen sieht man Orte der Innenstadt neu: gerade für Personen, die Hannover bereits kennen, eine interessante Erfahrung. Auch ist etwas Ortskenntnis ist beim Hör-Spiel von Vorteil: Damit sich die Zuhörer*innen besser in die Geschichte einfühlen können, gibt es keine Unterbrechungen der Audioaufnahme.
So braucht es stete Wachsamkeit und das richtige Tempo, um die Ortsangaben nicht zu verpassen und dann falsch zu laufen. Sollte man sich verirren, hilft ein Stadtplan, den man im Buchladen mitbekommen hat an den richtigen Ort zurück.
Für die City als Spielort hätten sie sich bewusst entschieden, sagt Laage: „Hier treffen sich verschiedenste Perspektiven.“ Alle vier Audiowalks starten und enden am selben Punkt und dauern ungefähr gleich lang. Während des Walks mit der Geschichte, für die man sich entschieden hat, allein, kann man sich danach mit anderen Hörer*innen austauschen.
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