Hörbücher in der Pandemie: Im Schutzraum aus Stimmen
Ein Doppelleben mit Proust in der Tram und Dagmar Manzel beim Umsteigen. In der Pandemie ist unser Autor den Hörbüchern verfallen.
Seit gut hundert Stunden liegt mir Peter Matić in den Ohren, mit Proust, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Die Stimme des Burgschauspielers begleitet mich auf all meinen Wegen, so viele sind es pandemiebedingt nicht, auf dem Rad, in den Öffentlichen und nicht zuletzt auch zu Fuß, auf meinen Wegen vom Wedding nach Charlottenburg und Prenzlauer Berg, und in den Schlaf liest er mich auch.
So ist mein Alltag, und es gibt dank Corona fast nur noch Alltag, begleitet, ja durchdrungen von einer anderen Sphäre, anderen Orten, einer anderen Zeit. Sie schmeichelt sich kabellos per Bluetooth über die Hörbuch-App auf dem Handy in mein Real Life ein.
Es ist ein Doppelleben, das ich so lebe. Proust sitzt mit mir in der Tram, im Combray nehme ich die U 6 in den Wedding, ich stehe an der Käsetheke im Pariser Aristokratenviertel Faubourg Saint-Germain, beim Umstieg am Naturkundemuseum hatte Marcel, der Erzähler, im Ringen mit Gilberte einen Orgasmus.
Ich war mit dem Erzähler Marcel in Balbec am Atlantik, folge seinen Schilderungen der Pariser Adelsgesellschaft vor und nach 1900, diniere im Salon der dümmlichen Verdurins, bin intim vertraut mit dem liebenden, dann dem sterbenden Swann, mit dem schwulen Baron de Charlus und seiner von Sadismus nicht freien Beziehung zu dem Violinisten Morel.
Anfang Januar ging es los, mit Proust
Ich sehe Marcels begehrenden Blick auf Albertine (es ist, um das mindeste zu sagen: kompliziert, aber es ist alles mindestens kompliziert in diesem Roman), erlebe aber auch von den essayistischen Passagen des Romans den ungeheuren Umsturz des Alltags, den die Nutzung des Telefons bedeutet und die erste Fahrt über die Dörfer der Normandie im Automobil.
Es ging Anfang Januar los mit Proust, Matić und mir, seitdem ist die Lesung des kompletten Klassikers im RBB wochentags in halbstündigen Etappen zu hören. Das war mir, zeigte sich gleich, viel zu langsam, das ganze Jahr würde das dauern, ich besorge mir daher als Hörbuch in sieben Einzelbänden den härteren Stoff, wenn ich mit einem Band durch bin, jeweils das nächste.
Der RBB-Matić ist jetzt, da ich das schreibe, beim zweiten Band, „Im Schatten junger Mädchenblüte“, angelangt, ich dagegen bin bei Band fünf. Neu ist die Lesefassung nicht, schließlich ist Peter Matić, der mir bis dato vor allem als die deutsche Synchronstimme von Ben Kingsley vertraut war (ein wenig ist darum auch der britische Schauspieler auf meinen Hörbuchwegen immer mit von der Partie), schon seit zwei Jahren tot.
Die Einlesung stammt aus dem Jahr 2010 und ist das bis heute, sagt Wikipedia, umfangreichste deutsche Hörbuchprojekt. Ich habe in meinem Leben bisher zweimal mit der Lektüre von Prousts „Recherche“ begonnen, war über den zweiten Band nicht hinausgekommen. Nicht aus Mangel an Begeisterung, eher sind sehr dicke Bücher grundsätzlich nicht so mein Ding, aus Gründen, die mir keineswegs völlig durchsichtig sind.
Ich war nie ein Hörbuchmensch
Jedenfalls in dem Format, das mein Leseleben bis vor Kurzem bestimmt hat: in Print. Ich war nie ein Hörbuchmensch, nicht einmal als Kind, kein Hörer von Janosch-Kassetten, immer ein Papieraficionado (zwischendurch E-Books, meist auf dem Handy, das ging dann seit ein paar Jahren auch).
Hörbücher sind nichts für mich, hätte ich bis vor zwei Jahren gesagt. Weil ich mir den Text nicht von einem Interpreten, der durch Betonung und Atmosphärisches aller Art unwillkürlich ständig Entscheidungen trifft, vorgeben lassen will, weil ich kein Stimmgekasper mag und mir auch überhaupt manche Stimmen quer im Ohr liegen. Seit ich exzessiv Hörbücher höre, muss ich sagen: Es ist, wie es mit Vorurteilen und Verallgemeinerungen so ist, sie treffen im Einzelfall, häufiger als einem lieb ist, nicht zu.
Rufus Beck ist wirklich ganz schlimm, aber der Stimmgekaspervirtuose Stefan Kaminski kräht grandios in Zungen und Tönen, wenn er mir den bis dato wenig geliebten Viktor Jerofejew erschließt. Und Dagmar Manzel, auf Deutsch, und Stine Wintlev, auf Englisch, haben mir Tove Titlevsen nähergebracht, als es der schriftliche Text je gekonnte hätte. Bonus in Wintlevs Fall: Sie spricht die dänischen Namen und Wörter korrekt aus. So wird die bleibende Fremdheit, die die andere Sprache und Welt auch im Übersetzten behält, noch einmal anders hörbar und spürbar.
Ich höre Stimmen: Wenn ausgebildete Schauspieler*innen sprechen, ist es oft virtuos, wie bei dem legendären Gert Westphal (er hat mir 58 Stunden lang Victor Hugos „Die Elenden“ vorgelesen), aber oft liegt das Behagen am eigenen Können als leichte Schleimspur über den Wörtern des Texts.
Eine andere Sache sind die Autor*innen, die selbst lesen
Was man mitgenießen kann, aber nicht muss. Eine andere Sache sind die Autor*innen, die als nicht ausgebildete Sprecherinnen und Sprecher ihre Bücher selbst einlesen. Bei manchen, Saša Stanišić etwa, erschließt sich der Text in seinen Rhythmen und sprachlichen Färbungen ganz anders als auf Papier. Bei anderen geht es doch eher monoton zu.
Und bei autofiktionalen Texten, Erinnerungen und Memoirs macht es, zumindest auf den ersten Blick, ohnehin Sinn, als zusätzliche Beglaubigung des Ichs, das hier spricht. Was man dann als Authentifizierungseffekt medientheoretisch auch wieder für too much halten kann, denn nichts wird durch diese Beglaubigung literarischer oder wahrer.
Im Einzelfall trotzdem sehr überzeugend. Natürlich bei Barack Obama. Aber auch in einem Fall wie dem Chanel Millers, die in dem sehr schmerzhaften Memoir „Know My Name“ die Geschichte ihrer eigenen Vergewaltigung rekonstruiert und erzählt. Das Buch ist und versteht sich als Wiederaneignung eines Ichs, das die Reduktion auf den Status des Opfers verweigert. Es hat seine Logik, dass Miller selbst, und die Zuhörer*in mit ihr, das aus der Ich-Perspektive noch einmal durcharbeiten will.
Die Stimme im Ohr ist mir näher als der Text auf Papier, so kommt es mir vor. Alles in mir sperrt sich gegen das Wissen, dass der oder die, die als Stimme so nah und so scheinbar unabweisbar anwesend ist, nicht mehr am Leben sein soll. Gegen solche Affekte vermag das Wissen sehr wenig, nicht das Wissen um den Tod, nicht das Wissen darum, dass die Stimme immer schon von Effekten der Schrift, und damit der Abwesenheiten, durchsetzt ist, nicht das Wissen um die vielfache Vermitteltheit der Medien, die zu solchen Präsenzeindrücken führt.
Der Schein der Anwesenheit
Es ist ja darum das Erleben, das sich als Wirkung von Medien einstellt, als Einbildung nicht weniger wahr. Und so mag es sein, dass ich in Zeiten der Pandemie aus lustvoller Hingabe an den Schein von Anwesenheiten dem Hören von Stimmen verfallen bin. Es klingen, ich will es gar nicht bestreiten, die Vorlesestimmen von Mutter und Vater aus Kindertagen herauf.
Schließlich schlafe ich recht verlässlich zur Stimme von Peter Matić, tot wie mein Vater, nun ein. An einer Stelle in der Recherche, in Sodom und Gomorrha, vergleicht Proust den Schlaf – ohnehin vom ersten Satz an eines der großen Themen und Motive des Riesenromans – mit einer zweiten Wohnung, die man nur aufsuchen kann, wenn man den Wachzustand hinter sich lässt. Ein wenig, scheint mir, ist es mit den Hörbüchern so, als böten sie eine Wohnung, einen Schutzraum von dieser Art.
Einen Raum, der sich aber von den Räumen, in denen ich sitze, liege und fahre, nicht vollständig abkapselt, sondern mir den Aufenthalt auf der Grenze ermöglicht. Ein Nicht-ganz-in-der-Welt-Sein, das dieser doch verbunden bleibt, ja, dessen Reiz gerade darin besteht, dass es eigentümliche und eigenartige Verbindungen herstellt. Meine Aufmerksamkeit ist im Schweben und so durchdringen und beleben, Matić im Ohr, die Proust-Welt von vor hundert Jahren und die Gegenwartswelt einander.
Ich bin in der zweiten Wohnung, sie ist Literatur, aber als Literatur zugleich Wachen und Schlaf, ein Wachtraum, der sensibilisiert und zugleich schützt, der die Aufmerksamkeit erhöht und ablenkt. Dank der Stimme im Ohr erlebe und sehe ich die Welt um mich herum mit anderen Augen und Sinnen. Es steckt darin sicher ein Moment der Regression, aber wann, wenn nicht jetzt, wäre diese Form von Rückzug, schon gar als Form einer anderen Wachheit, erlaubt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!