Hochbegabtenförderung: Der IQ allein entscheidet nicht
Die "Hochbegabtenförderung" will hohe Intelligenz schon in jungen Jahren trainieren wie ein Musikinstrument. Doch was später aus den superschlauen Kindern wird, hängt von vielen Faktoren ab.
Die Frage kennt Thomas Leeb offenbar schon. Und auf die Antwort, die er geben kann, ist er auch ein bisschen stolz. Ein Drittel der SchülerInnen in seinen Hochbegabtenklassen seien Kinder mit Migrationshintergrund, sagt Leeb. "Manche türkischen Eltern wissen nicht, dass ihr Kind hochbegabt ist. Die erfahren das erst durch den Test", erzählt der Leiter der Anna-Lindh-Schule in Berlin-Wedding.
Hochbegabte - jahrelang ging die Frage darum, dass man sie erkennt. Denn nicht wenige landeten unerkannt in Sonderschulen - da sie mit Regelunterricht nichts anfangen konnten. Inzwischen ist man weiter: Es sprießen Hochbegabtenklassen, in denen sie angeblich schneller lernen. Die moderne Sichtweise geht so: Klassen und Hochbegabte - das schließt sich aus. Also versuchen gute Einrichtungen das Lernen radikal zu individualisieren. dghk.de
Die Grundschule ist eine von vielen Bildungseinrichtungen in Deutschland, die eine besondere Förderung anbieten für Kinder, die nach bestimmten Tests als "hochbegabt" gelten. In der Weddinger Schule lernen in 10 speziellen Klassen 90 hochbegabte Kinder zusammen mit normal talentierten Zöglingen.
Die Superschlauen bekommen im Unterricht öfter Sonderaufgaben und pro Woche bis zu vier zusätzliche Förderstunden. Darin machen sie naturwissenschaftliche Experimente, knobeln an schwierigen Rechenaufgaben oder beschäftigen sich auch mal ausführlich mit dem Verhalten der Haie. "Hochbegabtenförderung ist nicht nur Eliteförderung", betont Leeb.
Auch andernorts widmet man sich dem Thema. Erst in diesen Tagen verkündete etwa der Ministerrat in Baden-Württemberg, auf weiteren Gymnasien Hochbegabtenklassen einzurichten, in denen als hochtalentiert getestete Jugendliche schneller lernen können als anderswo.
Der Begriff "Hochbegabung" ist aber letztlich nur eine gesellschaftlich festgelegte Norm. "Von intellektueller Hochbegabung spricht man häufig dann, wenn eine extrem hohe Intelligenz vorliegt, die sich in einem IQ von 130 oder höher ausdrückt", heißt es in der Schrift "Begabte Kinder finden und fördern" des Bundesbildungsministeriums. Wer einen Intelligenzquotienten von mindestens 130 hat, ist so schlau wie nur 2 Prozent der Bevölkerung. Rein rechnerisch gilt also jeder 50. als "hochbegabt".
Dabei geht es um die intellektuelle Begabung, nicht um das musische, sportliche oder kommunikative Talent. Für ältere Schulkinder und Erwachsene wendet man etwa den Berliner Intelligenz-Struktur-Test (BIS) an. Er misst das logisch-mathematische Denken, die Auffassungsgabe, das Gedächtnis, den Einfallsreichtum, die Geschicklichkeit im Umgang mit Zahlen und Wörtern.
Für Grundschulkinder, die in der deutschen Sprache nicht zuhause sind, gibt es "nicht so stark sprachgebundene Tests", erklärt Mara Suhren von der William-Stern-Gesellschaft für Begabungsforschung und Begabtenförderung in Hamburg. Ein Migrationshintergrund müsse dabei kein Nachteil sein, im Gegenteil, erklärt Suhren. Sprechen die türkischen Eltern gut Deutsch und erhält das Kind so Zugang zu zwei Kulturkreisen und Sprachen, "dann erweitert sich der Horizont. Das trainiert das Gehirn und fördert die Intelligenz."
Der Intelligenzquotient bleibt jedoch immer nur eine konstruierte Zahl. Die Schwelle von 130 für "Hochbegabung" bedeutet nicht einen plötzlichen Sprung in irgendwelche genialen Bereiche. Die Unterschiede etwa zwischen einem Intelligenzquotienten von 128 oder 132 seien lediglich "graduell", räumt das Bundesbildungsministerium ein, "da beginnt keine neue Welt".
Die neuere Begabtenförderung sieht sich daher auch nicht als Auslese vermeintlicher Genies, sondern verfolgt einen pragmatischen Ansatz. Kaum jemand käme auf die Idee, dass Spitzenleistungen etwa in der Musik anders zu erreichen wären als durch langjähriges intensives Üben unter der Anleitung von Experten, heißt es in der Schrift des Bildungsministeriums. Nicht anders verhalte es sich mit der intellektuellen Leistungsfähigkeit, die genauso trainiert werden müsse.
Mathematische Intelligenz ließe sich dabei durch Übungen leichter fördern als etwa die sprachliche Intelligenz, sagte Ernst Hany, Professor für Psychologie an der Universität Erfurt, im Gespräch mit der taz. Frühes Training gilt hier als sinnvoll. In der Mathematik und Physik würden die Höchstleistungen etwa im Alter von um die 25 Jahren erbracht, so Hany. Schriftsteller hingegen erreichten oft erst im Alter von um die 50 Jahren die Höhe ihrer Schaffenskraft.
Ob die Hochintelligenten später aber tatsächlich zur Leistungselite gehören, steht auf einem anderen Blatt. Der Klassiker zu diesem Thema ist eine jahrzehntealte Langzeitstudie des US-Amerikaners Lewis Terman, nach der Hochbegabte später in guten beruflichen Positionen landeten, aber nur wenige dabei wirklich brillant und hochkreativ wurden.
Lange galt die Annahme, dass sehr hohe Intelligenz keinen Unterschied mehr mache beim beruflichen Erfolg. Die Berliner Psychologin Miriam Vock vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen sieht dies differenziert: "Auch hohe Intelligenz jenseits eines IQ von 130 kann noch etwas ausmachen, wenn es um berufliche Leistungen in anspruchsvollen Berufen geht, zum Beispiel in der Wissenschaft", hat sie festgestellt.
Von dieser Regel gebe es allerdings eine Ausnahme: "Bei Berufen, in denen man seine Ideen vielen Menschen vermitteln muss, kann eine sehr hohe Intelligenz hinderlich sein - weil die andern einen nicht verstehen. Das betrifft etwa Manager, die viele Mitarbeiter führen müssen, oder Politiker. In diesem Fall scheint eine hohe, aber nicht überragende Intelligenz von etwa 120 optimal."
Auch Mathematikprofessoren müssen ihren Stoff vermitteln und in Universitätsgremien mitarbeiten können, betont Andreas Kirsch, Mathematikprofessor in Karlsruhe und in der Hochbegabtenförderung aktiv. Und Software-Ingenieure basteln im Team an marktfähigen Produkten.
Die soziale Begabung, die oft über den Erfolg in Führungspositionen entscheidet, ist aber kaum mit standardisierten Testverfahren zu überprüfen. "Soziale Begabung kann man noch nicht verlässlich messen", sagt Vock. Für die vielbeschworene "emotionale Intelligenz", also die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühlszustände wahrzunehmen und darüber zu kommunizieren, hapert es noch an anerkannten Prüfmethoden. "Zur ,emotionalen Intelligenz' gibt es noch keine Testverfahren, die man einsetzen könnte", schildert Vock.
Die hochintelligenten Kinder leiden zudem nicht selten unter einer asynchronen Entwicklung: Sie werden oft als "erwachsener" wahrgenommen, als sie in ihrem Gefühlsleben wirklich sind. Schulleiter Leeb aus Berlin betont: "Unser Augenmerk muss daher immer auch den emotional-sozialen Rückständen gelten."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen