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Hitlers Duzfreund

Er war für Heimatliebe, Naherholung und Tourismus zuständig: Hermann Esser (1900 – 1981) – eine bayerische Biografie, wie sie bislang in keinem Buche stand

Hitler (li.) bei der Hochzeit Essers (re.) mit Anny Bacherl, München, 5. 4. 1939 Foto: bpk/Bayerische Staatsbibliothek/Heinrich Hoffmann

Von Karina Urbach

Der Historiker Paul Hoser ist dafür bekannt, spektakuläre Quellen aufzuspüren. 2017 sorgte sein Aufsatz über Hitlers jüdischen Hausvermieter für internationales Aufsehen. Seine akribischen Recherchen über die rigorose „Judenpolitik“ eines Memminger Bürgermeisters führten zu einer Klagedrohung dessen Kinder und seine detaillierte Untersuchung Starnbergs in der NS-Zeit erfreute ebenfalls nicht alle Einheimischen. Jetzt legt Paul Hoser eine zweibändige Biografie vor, an der er über zehn Jahre gearbeitet hat und die wieder einmal mit neuen Quellenfunden glänzt. Es geht um einen Nationalsozialisten der ersten Stunde: Hitlers Duzfreund Hermann Esser (1900–1981).

Esser lernte Hitler im August 1919 in München kennen. Trotz des Altersunterschiedes von 11 Jahren hatten die beiden viel gemeinsam. Sie wuchsen in kleinbürgerlichen Familien in der Provinz auf und brachen die Schule ab. Nach ihrem Kriegseinsatz irrten sie desillusioniert durch München. Beide neigten zur Indolenz und lehnten es ab, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Um sich finanziell über Wasser zu halten, spitzelten sie für die Reichswehr. Eine der Parteien, die sie belauschten, gefiel ihnen besonders – die DAP (ab 1920 NSDAP).

Hitler wurde schnell ihr bester Redner und Esser fungierte als sein warm up act. Als Vorredner konnte er mit großem rhetorischen Geschick mühelos einen Saal anheizen. Beide Männer waren im doppelten Sinne Nachtgestalten. Sie lebten – wie Theaterschauspieler – für ihre Abendauftritte.

Nach der Veranstaltung waren sie dann in der Regel zu aufgeputscht, um ins Bett zu gehen. „Dann war man erregt“, erinnerte sich Esser später. „Es ist meistens zwei Uhr geworden, das war schon sehr normal.“ Den Rhythmus aus dieser frühen „Kampfzeit“ sollten sie beibehalten. Hitler würde zwar im Laufe der Jahre immer weniger von Essers administrativen Fähigkeiten halten, aber er schickte seine Rampensau bis zum Schluss immer wieder auf die Bühne.

Paul Hosers Studie belegt jetzt erstmals, welche Rolle der wortgewaltige Esser in den Jahren 1920 bis 23 für Hitlers Aufstieg zum propagandistischen Agitator spielte. Gemeinsam mit Dietrich Eckart begründete Hermann Esser (und nicht erst Rudolf Hess) den „Führermythos“.

Hoser hat für seine Untersuchung Hunderte von Artikeln und gedruckte Reden Essers aufgespürt und durchgearbeitet, was zweifellos eine enorme Leidensfähigkeit erfordert.

Esser war von zwei Lebensthemen beseelt: seiner Liebe zum Führer und seinem Hass auf die Juden. Lange vor Julius Streicher agitierte er als Radaujournalist gegen jüdische Warenhäuser, denunzierte prominente Juden (er war deswegen in unzählige Beleidigungsprozesse verwickelt), roch überall Rassenschande und wetterte in seinen Reden wahlweise gegen jüdische Kommunisten oder jüdische Kapitalisten. Schon früh forderte er zur Gewalt gegen Juden auf. Während der Ruhrkrise 1923 schlug er vor, man solle einfach Juden als Geiseln nehmen und sie dann im Zweifelsfall ermorden.

Um seinen Anhängern ausreichend Propagandamaterial an die Hand zu geben, veröffentlichte er 1927 das magnum opus „Die jüdische Weltpest“, ein Potpourri seiner „besten“ Ideen. Nach dem Novemberpogrom 1938 ließ er aus aktuellem Anlass schnell noch eine Neuauflage drucken. Esser war damit ganz auf ideologischer Linie. Er schaffte es in den Aufsichtsrat der Lufthansa und wurde unter Joseph Goebbels Staatssekretär der Fremdenverkehrsabteilung.

Aber trotzdem machte er am Ende nur eine mäßige NS-Karriere. Das lag wohl vor allem an seiner ausgeprägten Faulheit. Während seine Altersgenossen Himmler und Bormann bienenfleißig dem Führer zuarbeiteten, ging Esser lieber jagen. Paul Hoser beschreibt ihn denn auch als den „Taugenichts des Nationalsozialismus“. „Angeberei und Unzuverlässigkeit“ seien bei Esser „grundlegende Wesenszüge“ gewesen. Zwischenzeitlich entzog Hitler seinem alten Kampfgefährten 1935 sogar das Du. Das Beziehungstief hielt jedoch nicht lange an. Über sein Engagement für die ­Olympiade 1936 in Berlin gelangte Esser bald wieder in Hitlers Nähe. In der Folge besuchten sie gemeinsam Mussolini und „marschierten“ Seite an Seite in Österreich ein. Selbst beim gescheiterten Bombenattentat am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller war Esser ganz nah bei seinem Führer, verließ aber auch wie dieser zu früh den Saal.

Die wiedergewonnene Führer-Nähe verdankte Esser auch seiner Geliebten Anny Bacherl. Anny war die Tochter des Münchner Hofbräuhaus-Wirts und eine enge Freundin von Eva Braun. Sie wurde oft auf Hitlers Berghof am Obersalzberg eingeladen, um Eva zu bespaßen. Esser kam gerne mit und erbat gelegentlich Hitlers Hilfe bei privaten Problemen. Denn davon gab es eine Menge.

Außer wütenden Ex-Geliebten hatte Esser auch seine erste Frau Therese mit zwei Kindern sitzengelassen. Therese weigerte sich, in eine Scheidung einzuwilligen, aber mittlerweile hatte er auch ein paar Kinder mit Anny gezeugt. Hitler half und 1939 konnte ein erleichterter Esser seinen „Führer“ und Eva Braun zum pompösen Hochzeitsfest einladen.

Im Krieg verlor der Fremdenverkehr naturgemäß an Bedeutung. Esser geriet wegen seiner „Bombenfrischler“ immer öfter mit Propagandaminister Goebbels aneinander. Der notierte 1942: „Esser ist im Bereich meines Ministeriums reichlich faul. Der Führer sagt, er sei seit jeher so gewesen, und gibt mir den Rat, ihn gelegentlich einzubestellen und ihm den Marsch zu blasen.“ Esser durfte jedoch Durchhaltereden halten und wurde weiterhin von Hitler empfangen. 1944 informierte er Hitler über die Bombardierung Münchens, stieß jedoch auf Desinteresse: „(Hitler) hat sich in erster Linie nach dem Braunen Haus erkundigt und nach den Führerbauten, ob dort große Zerstörungen wären. Ich hab gesagt: Nein, die haben standgehalten. Das hat ihn gefreut und er sagte: Sehen Sie, wenn man da richtig gebaut hätte, hätte man da viel mehr machen können.“

Kaum jemand kannte die Parteiinterna vor 1933 besser als Esser. Aber erst nach dem Krieg fing er an zu reden. Da er als pathologischer Lügner einzustufen ist, hat Historiker Paul Hoser die Verhöre, Interviews und Artikel von und mit Esser forensisch überprüft. Hosers pikantester Fund ist dabei die Artikelserie „Hitlers Frauen“, die Esser 1949 in der Illustrierten Revue veröffentlichen wollte. Die Serie musste nach einer Folge eingestellt werden, da die klagewütige Leni Riefenstahl ihren Anwalt eingeschaltet hatte. Riefenstahl vermutete zu Recht, dass ihr ein ausführliches Kapitel gewidmet war. Schmeichelhaft war es nicht. Esser wusste genau, welche Frauen Hitler von Anfang an unterstützt und angehimmelt hatten. Er war nicht im Schlafzimmer dabei, aber er erlebte Hitler in den 1920er Jahren als Lustmolch, der auf mollige Frauen stand und viel Zeit in Nacktrevuen verbrachte. „Man konnte genau beobachten, wie er durch … das Betrachten einer hübschen Figur schnell geschlechtlich erregt, sich durch sexuelle Vorstellungen geradezu aufputschte.“

Laut Esser erhielt der Intendant am Münchner Gärtnerplatztheater extra große Geldsummen für Nacktszenen, um der „hitlerischen Freude am Exhibitionismus Genüge leisten zu können“. Auch Hitlers Adjutant, SS-Obergruppenführer Schaub, tat was er konnte, damit Hitler immer genug Haut zu sehen bekam (Schaub selbst war unter Prostituierten für seine Brutalität verschrien. Wenn er ein Lokal betrat, verließen die Mädchen es fluchtartig).

Esser geriet wegen seiner Bomben- frischler immer öfter auch mit Propaganda- minister Goebbels aneinander

Ob Hitler nur als Voyeur agierte oder zur Tat schritt, bleibt offen. Eine reißerische britische TV-Dokumentation über seine DNA behauptete jüngst, der „Führer“ habe Angst vor Frauen gehabt und unter dem Kallmann-Syndrom gelitten. Möglicherweise habe er einen funktionsunfähigen Mikro­penis, ADHS und Autismus gehabt (einer der interviewten „Experten“ sieht darin verrückterweise auch Hitlers Überfall auf die Sowjetunion begründet).

Dass er nur einen Hoden besaß, ist seit Langem bekannt. Da Dr. Morell ihm jedoch Testosteron für die Libido spritzte und gleichzeitig Eva Braun periodestillende Medikamente verabreichte, könnte auch Essers Koitus-Theorie zutreffen. Wichtiger als die Sexseite ist jedoch Essers Einschätzung von Eva Brauns Charakter. Anders als Mussolinis Geliebte, die eine fanatische Faschistin war, kümmerte sich Braun bekanntermaßen nur um Schmuck und Mode. Dadurch wurde sie laut Esser zum Werkzeug von Martin Bormann. Er verschaffte ihr Devisen für Italien­reisen, dafür vertrat sie seine Interessen bei Hitler.

Seine eigenen Interessen wusste auch Esser gekonnt zu verteidigen. Als die amerikanische Spionageabwehr CIC ihn im Mai 1945 verhörte, gab er zu Protokoll, er habe „den Krieg nicht gewollt und damit nichts zu tun gehabt“. Weder sei er für Grausamkeiten verantwortlich, noch habe er je politische Gegner denunziert. Hoser hat Essers Lügenlabyrinth mit einer ausgezeichneten Biografie nun zum Einsturz gebracht. Er beschreibt einen dumpfen, banalen Mann, der kein großer Entscheidungsträger war, dessen Propagandareden aber verheerende Auswirkungen hatten.

Geehrt wurde Esser am Ende trotzdem. Franz Josef Strauß gratulierte dem ehemaligen bayerischen Staatsminister Hermann Esser zum 80. Geburtstag.

Paul Hoser: „Hermann Esser. Eine politische Biographie“. München 2025, 2 Bände, ISBN 978 3 7696 04290

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