Historischer Roman von Ulla Lenze: Folgekosten der Moderne
Ein Sanatorium ist zentraler Ort von „Das Wohlbefinden“. Drumherum hat Autorin Ulla Lenze ein Gesellschaftspanorama mit langem Zeitstrahl entwickelt.
Die ist im zweiten Strang 1967 schon eine alte Dame, hadert mit einer Besprechung von Dr. Angelika Röttel in der FAZ, deren „grausamste Sätze“ lauten: „1. Johanna Schellmann war zwar eine erfolgreiche Frau, aber dadurch noch lange keine Feministin. 2. Das Herz auf der Zunge hatte Schellmann durchaus, aber das macht noch keine große Literatur.“ Grund genug, im Westberlin der Studentenunruhen sich und der Welt noch einmal das Gegenteil zu beweisen.
Die Entfesselung von Johannas literarischer Kreativität geht zurück auf das Jahr 1908. In diesem dritten und umfangreichsten Strang empfiehlt Clemens, Johannas ehrgeiziger und fortschrittsgläubiger Gatte, ihr die Heilstätten in Beelitz als Inspirationsquelle. Bei einem Besuch dort begegnet Johanna der charismatischen Patientin Anna Brenner.
Hellseherische Fähigkeiten
Das Dienstmädchen verfügt angeblich über hellseherische Fähigkeiten, wird vom behandelnden Arzt auch als „Medium“ benutzt und nach München zum berühmten Okkultisten Albert von Schrenck-Notzing vermittelt. Auch Johanna ist fasziniert von Anna, nimmt sie als Gast bei sich auf, riskiert darüber fast ihre Ehe und schreibt mit Annas Hilfe ihr rückblickend bestes und erfolgreichstes Buch über ihr eigenes Frauenleben.
Ulla Lenze: „Das Wohlbefinden“. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 336 Seiten, 25 Euro
Schon in ihrem letzten Roman „Der Empfänger“ (2020) hat sich Ulla Lenze das Genre des historischen Romans über einen Antihelden und verschiedene Zeitebenen erschlossen. Damals war es der in die USA ausgewanderte deutsche Amateurfunker Josef Klein, der sich im New York der 1930er von den Nazis als Spion einspannen lässt und später in Argentinien und Costa Rica seine Mitläuferschaft reflektiert.
Auch ihre jüngste Protagonistin Johanna Schellmann bleibt bis zum Schluss ein ambivalenter Charakter: Einerseits ist sie als Tochter aus wohlhabendem Bürgerhaus ausgestattet mit zahlreichen Privilegien wie dem, ihre Mutterrolle an Kindermädchen und Gouvernanten delegieren zu können.
Raus aus dem Gesellschaftskorsett
Andererseits versucht sie aber auch, aus dem gesellschaftlichen Korsett auszubrechen, zunächst durch die Liebesheirat mit Clemens, der ein seltener Aufsteiger aus der Arbeiterklasse ist, dann durch ihr eigenes Schreiben. Und hier beginnt die Verehrung und Verstrickung mit der frommen, kaum gebildeten Anna, die Johanna inspiriert – und die sie doch verraten wird.
Emanzipation und die Klassengesellschaft im Kaiserreich spielten auch für die Beelitzer Heilstätten eine Rolle; hier wurde bereits im 19. Jahrhundert eine Art Kurort für die Arbeiterklasse errichtet, um die verheerenden physischen und seelischen Folgen der Industrialisierung sowie der pausenlosen Verfügbarkeit der Arbeiter:innen abzufedern – vielleicht aber auch nur, um ihre Arbeitsfähigkeit zu verlängern.
Dass zur selben Zeit auch im Bürgertum das Interesse an Körperkultur und Reformideen bis hin zu esoterischen Praktiken wuchs, zählt ebenfalls zu den Schadensbegrenzungen und Folgekosten der entfesselten Moderne, die bis in die Gegenwart reichen. Und nicht nur die Arbeiter emanzipierten sich, auch wohlhabenden Bürgerinnen interessierten sich plötzlich für ihre Freiheit und die „Frauenfrage“.
Spannungspotenzial nicht ausgeschöpft
Doch so vielschichtig die sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergründe auch sind und von Ulla Lenze in den Stoff mit eingewoben werden, „Das Wohlbefinden“ schöpft sein Spannungspotenzial nicht voll aus. Sowohl Vanessas Wohnungssuche als auch das langsame Wegdämmern der greisen Johanna in die Demenz sind eher antiklimaktisch angelegt; und wenn Vanessa mit einer Achtsamkeitsapp meditiert, wirkt das wie eine allzu konstruierte Parallele zur wilhelminischen Esoterik.
Thrillermaterial findet sich noch am ehesten in der Konstellation bürgerliche Schriftstellerin versus Medium aus der Arbeiterklasse. Beide haben Vorbilder in der Geschichte, wie das Quellenverzeichnis am Ende des Buches offenlegt: Während Anna der Spiritistin Anna Rothe nachempfunden ist, die Anfang des 20. Jahrhunderts wegen Betrugs zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt wurde, hat Lenze bei Johanna das Schreiben aus bürgerlich-weiblicher Perspektive interessiert, wie es etwa Gabriele Reuter zur selben Zeit praktizierte.
Allerdings sind beide Figuren erzählperspektivisch nicht gleichberechtigt. Während Johanna ihre Beziehungen fühlt und reflektiert, sei es die kaum vorhandene zu ihren Kindern, die angespannte zum Dienstpersonal oder die zunehmend krisenhafte mit Clemens, bleibt die alleinstehende Anna vor allem Gegenstand der Betrachtung, durch die Ärzte oder Johanna. Und sie lässt sich da kaum in die Karten gucken.
Nur einmal macht Lenze eine Ausnahme und erzählt die Reise nach München aus Annas Perspektive. Die großbürgerlich-bohemehafte Séance bei Schrenck-Notzing, in der ein lesbisches Paar als erotischer Leckerbissen auftritt und in die nun auch Anna eingebaut wird, erlebt sie als großes Theater – und implizit als Chance, endgültig der Dienstbotenzwangsarbeit zu entkommen, für einmal Subjekt ihres eigenen Lebens zu werden.
Gelingt das auch Johanna, deren Ausgangsposition ungleich privilegierter ist? Wieso weist sie Annas Bitte zurück, Johanna möge ihr Leben aufschreiben? Dr. Angelika Röttel liegt, was Johannas Feminismus angeht, wohl nicht ganz falsch. Leider trifft ihr zweiter Punkt auch ein wenig auf „Das Wohlbefinden“ zu, obwohl Ulla Lenze eher das Hirn auf der Zunge trägt. Wohl deshalb klingt die eigentlich unprätentiöse, kühl-melancholische Erzählerin hier manchmal fast ein wenig hölzern, auch wenn so viele Themen in ihrem Stoff stecken, und so anspruchsvoll sie auf drei Zeitebenen verteilt und reflektiert werden.
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