Historikerin über Teilen und Tauschen: „Ich halte es mit dem Sozialstaat“
Wie organisiert sich Gesellschaft? Die Historikerin Ulrike Frevert meint, dass „Vertrauen“ nur das Wohlfühlwort der Sharing Economy ist.
taz: Frau Frevert, Sie sagen, Vertrauensfragen sind eine Obsession unserer Zeit, also krank und belagernd. Was ist da los?
Ute Frevert: Wir reden unaufhörlich über Vertrauen, meist in appellativem Ton und meist in irreführender Weise. Wir benutzen den Begriff für alles Mögliche und vor allem Unmögliche – vom Vertrauen aufs Wetter bis zum Vertrauen zum Bundesverfassungsgericht. Das genau ist das Problem.
Wie konnte der Begriff von der persönlichen Sphäre in die politische und wirtschaftliche wandern?
Er ist einfach zu sexy, um nicht zu wandern. Im Ernst: Vertrauen ist ein Wohlfühlwort, hat einen warmen emotionalen Glanz, mit dem sich alle schmücken wollen, Parteien ebenso wie Wirtschaftsunternehmen.
Aber geht es in Vertrauensfragen nicht immer um einen Grundkonflikt zwischen Abhängigkeit und Autonomie?
Wenn ich einer Person vertraue, gebe ich mich ein Stück weit in ihre Hand, gebe also Autonomie ab und tausche sie gegen emotionale, zum Teil auch gegen materielle Güter.
Man könnte das viele Reden über Vertrauen auch als Symptom für einen allgemeinen Vertrauensverlust lesen – in die Parteien, die Institutionen.
Ich würde hier nicht von Vertrauen reden. Einer Institution kann ich genau genommen nicht vertrauen, sondern ich verlasse mich darauf, dass sie ihren Regeln gemäß arbeitet. Wenn ich Grund habe, an dieser Verlässlichkeit zu zweifeln, ist das kein Vertrauens-, sondern ein Legitimitätsverlust.
Die Historikerin Ute Frevert, Jahrgang 1954, ist seit 2008 Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Sie ist Autorin zahlreicher kulturwissenschaftlicher und historischer Publikationen. Zuletzt hat sie sich vor allem mit der Geschlechter- und Emotionsgeschichte der Moderne befasst.
In Weimar hält sie einen Vortrag zum Thema „Vertrauen im Teilen und Tauschen“: Was können wir heute unter dem Begriff Vertrauen verstehen? Wo verläuft die Grenze zwischen wirtschaftlichem Kalkül und menschlicher Empathie? (3. Juni, 9.30 Uhr) Mit der Soziologin Eva Illouz wird sie über „Paradigmen des Sharings“ sprechen (2. Juni, 11.30 Uhr)
Zurzeit scheint es, als könnte die Empathie das Vertrauen ablösen: Die Rede darüber ist allgegenwärtig. Müssen wir da auch skeptisch sein?
Skepsis ist bei rhetorischen Hypes immer angebracht. Aber solange Volkswagen oder die Deutsche Bank diese Rhetorik noch nicht für sich entdeckt haben, gibt es noch Hoffnung …
Der Neoliberalismus soll die Konkurrenz zwischen den Menschen verallgemeinert haben. Sind wir heute weniger empathisch als vor 50 oder 100 Jahren?
Zweifellos hat die Angst davor, ökonomisch ins Hintertreffen zu geraten, zugenommen, nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung von Konkurrenz. Zugleich beobachten wir eine Globalisierung des Mitgefühls, sichtbar im milliardenschweren Spendenaufkommen für humanitäre Projekte. Empathie, Mitgefühl, Mitleid sind keine Neuerfindungen unserer Zeit. Ohne sie hätte es keine Sklavenbefreiung, aber auch keine Tierschutzbewegung gegeben.
Nun erlebt aber gerade das Vertrauen wieder eine ganz neue Renaissance in der sogenannten Sharing Economy, wo es darum geht, Eigentum zu teilen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Skeptisch. Die Währung der Sharing Economy ist nicht Vertrauen, sondern Geld. Vertrauen schwebt nur als Wohlfühlwort drüber. Im Ernstfall ist man versichert, wenn der „Gast“ die gemietete Wohnung demoliert.
Modelle des Teilens sind in aller Munde. Couchsurfing, Carsharing, kollektives Häuslebauen, den Garten oder die Datsche gemeinsam nutzen: Share Economy scheint zu boomen.
Beim Kultursymposium 2016 in Weimar diskutiert man Teilen und Tauschen als Grundlagen menschlicher Kulturpraktiken, die in ärmeren Ländern eine ebenso große Rolle wie in Wohlstandsgesellschaften spielen. Die vom Goethe-Institut veranstaltete Tagung läuft vom 1. bis 3. Juni (Info: hier).
Mit dabei sind neben Ute Frevert unter anderem die israelische Soziologin Eva Illouz, der italienische Philosoph Toni Negri sowie der US-amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin.
Die Sharing Economy kommt ja häufig im Mantel der Konsumkritik daher. Nun macht die Kritik am Konsum noch keine gerechte Gesellschaft. Bleibt die Idee eines freien, gerechten Tauschs eine Illusion?
Wann ist ein Tausch gerecht und frei? Es setzt voraus, dass jeder etwas zum Tauschen hat, was andere gern haben möchten und sich gewaltlos verschaffen möchten. Also kein Recht des Stärkeren, keine Not, die die Freiheit aufhebt. Das sind zu viele Wenns und Abers. Ich halte es lieber mit dem auf dem Solidaritätsprinzip beruhenden Sozialstaat – so unvollkommen er auch sein mag.
Neuere Ansätze sprechen von der Kollaboration und den Commons: Es geht um die gemeinsame Nutzung und das gerechte Teilen von Gütern als Möglichkeit, zu einer gerechteren und nachhaltigeren Gesellschaft zu gelangen. Kollaboration soll den gemeinsamen, nicht den eigenen Zielen dienen. Ohne Vertrauen ginge das wohl auch nicht?
Das funktioniert vielleicht in einer Kommune, die sich auf solche gemeinsamen Ziele einigen kann. Vertrauen darin, dass sich alle an diese Ziele halten, ist hier nicht nur nötig, sondern aufgrund der persönlichen Beziehungen auch möglich. Für ganze Gesellschaften kann ich mir das kaum vorstellen.
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