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Historiker Süß über Solidarität„Kein Wohlfühlbegriff“

Ob Pandemie oder Ukrainekrieg: Alle reden von Solidarität. Aber was bedeutet sie genau? Ein Gespräch mit Historiker und Buchautor Dietmar Süß.

Freiwillige Hel­fe­r*in­nen gibt es seit Kriegsbeginn viele – auch hier am Berliner Hauptbahnhof Foto: Ann-Christine Jansson
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

taz: Wann waren Sie das letzte Mal solidarisch, Herr Süß?

Dietmar Süß: Wir haben uns als Familie finanziell und zeitlich in der Unterstützung ukrainischer Geflüchteter engagiert. Aber mehr möchte ich dazu gar nicht sagen, weil das unsere individuelle Entscheidung ist.

Der Revolutionär Kurt Eisner schrieb 1908, dass Solidarität nicht aus dem Herzen, sondern aus dem Kopf kommt. Demzufolge müsste bei Ihnen zu Beginn eine Überlegung gestanden haben, oder?

Bei mir – aber bei Kurt Eisner natürlich auch. Eisner redet über diese Idee von Solidarität als „Baumeister einer neuen Welt“, in der etwas anderes entsteht als das, was Eisner wahrscheinlich eine Form von gefühlsduseliger Barmherzigkeit bei den Religiösen genannt hätte. Er hätte gesagt: Diese Solidarität entsteht aus so etwas wie einem klassenspezifischen Bewusstsein. Das meinte er, wenn er vom Kopf sprach, in dem die Solidarität entsteht.

Und was braucht es noch?

Solidarität umfasst immer mindestens drei Dimensionen. Solidarität ist eine Form von sozialer Beziehung zwischen Mitgliedern einer Gruppe, die sich emotional verbunden fühlen. Diese Emotionalität gehört zum Kopf ganz wesentlich mit dazu. Zweitens braucht sie so etwas wie eine gegen­seitige Erwartung von Hilfe im Bedarfsfall. Und drittens braucht es die Annahme, dass das eigene Handeln eine besondere Form der Legitimität hat, also ein kämpferisches oder politisches Bewusstsein.

Die Vorstellung, dass man innerhalb einer bestimmten Gruppe solidarisch ist, zum Beispiel im Wohlfahrtsstaat, schließt andere notwendigerweise aus: Ihr seid Geflüchtete, also partizipiert ihr nicht.

Bild: Klaus Satzinger-Viel
Im Interview: Dietmar Süß

49, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Augsburg. Er war Mitkoordinator des Forschungsprojekts „Praktiken der Solidarität“ des Bundesbildungsministeriums (BMBF). 2021 veröffentlichte er mit Cornelius Torp „Solidarität – Vom 19. Jahrhundert bis zur Corona-Krise“.

Solidarität ist kein Wohlfühlbegriff. Wir haben uns angewöhnt, ihn in der öffentlichen Debatte als eine Umschreibung für das Gute, Gerechte, für ein allgemeines Wohlfühlempfinden zu gebrauchen. Der Solidaritätsbegriff ist aber alles andere als harmonisch. Und ja, in der Solidarität steckt immer eine Annahme von „wir“ und den „anderen“. Diese Konstruktion prägt die Geschichte dieses Begriffs und auch seiner sozialen Praktiken seit seiner Entstehung als moderner Begriff mit, also seit dem 19. Jahrhundert.

Das heißt, Solidarität ist Eigennutz in einer Gruppe?

Es gibt ein Spannungsverhältnis, das diesem Begriff nicht erst heute, sondern seit seiner Entstehung innewohnt: das Spannungsverhältnis zwischen Universalität und Partikularität, also zwischen den gruppenbezogenen Formen der Vergemeinschaftung von Nation, Familie, dem sozialen Milieu und dem Anspruch, dass es jenseits dieser Gruppe auch noch andere Formen von Bindungen gibt.

Es wird also immer jemand ausgeschlossen.

Das prägt schon die Geschichte der Arbeiterinnen-und-Arbeiter-Bewegung. Wenn wir auf die frühen Darstellungen zur Geschichte des 1. Mai schauen, dann sieht man da ein Heer tanzender Arbeiter, bisweilen auch den Globus umspannend, also durchaus na­tio­nale Grenzen überschreitend. Aber zwei Gruppen sieht man im späten 19. Jahrhundert nicht: Das sind Frauen und das sind migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter, also die nichtweißen Arbeiter.

Noch einmal zu der verklärten Sicht auf die Solidarität: Es hat doch immer wieder Solidarität gerade von denen gegeben, die selbst nicht viel haben, also international von Ar­bei­te­r:in­nen für Streikende in England oder für Hungernde in Russland. Liegt da nicht auch ein sehr idealistisches Element jenseits von Hilfe, die man für sich erhofft?

Unbedingt. Insbesondere in der Arbeiter- oder der Frauenbewegung können wir beobachten, dass das Spezifische der Solidarität genau darin besteht, solche Grenzen partikularer Vergemeinschaftung immer wieder zu überschreiten. Das unterscheidet sie von Begriffen wie Kollegialität oder Kameradschaft: dass es zu Koopera­tionen zwischen Menschen kommt, die sich nicht unmittelbar persönlich kennen. Das hat der französische Soziologe Émile Durkheim beobachtet, als er darüber nachdachte, wie gesellschaftliches Zusammenleben in der modernen Welt funktioniert.

Dass es über Solidarität funktioniert, ist doch sehr optimistisch gedacht.

Es ist nicht unumstritten und eine vielleicht zu lineare Idee, aber ich glaube doch, dass Durkheim einen wichtigen Mechanismus beschreibt: Die Formen des Zusammenhalts, wie wir sie in vormodernen Gesellschaften etwa von Familien her kennen, verändern sich in einer modernen kapitalistischen Welt. Durkheim nimmt an, dass, wenn man in einer arbeitsteiligen kapitalistischen Gesellschaft miteinander über Arbeitsprozesse verbunden ist, auch neue Formen der Kooperation und Solidarität entstehen. Anders gesagt: Wir sehen unser eigenes Schicksal im Schicksal anderer. Unser Leben hat etwas mit dem Leben anderer zu tun, beispielsweise mit dem Schicksal von Geflüchteten, das auch auf die globalen Ungerechtigkeiten verweist, für die wir mitverantwortlich sind.

Hat die Idee der Solidarität andere Formen von Hilfe verdrängt?

Ich glaube nicht, dass die Solidarität die Caritas als Form von Hilfe abgeschafft hat. Aber sie meint etwas anderes. Die Idee der Caritas, also von der Barmherzigkeit in den christlichen Kirchen, meint eine Form von Unterstützung, die, anders als bei der Solidarität, nicht auf dem Prinzip der Augenhöhe basiert. Caritas kann immer auch eine Form von paternalistischer Fürsorge sein. Deswegen muss sie nichts Schlechtes sein. Aber sie meint eben eine andere Form von sozialer Interaktion. Wobei sich in der Praxis von Hilfe für ganz unterschiedliche Pro­ble­me dieser Welt diese Formen der Unterstützung auch oft überschneiden.

War es echte Augenhöhe oder eher Paternalismus, als sich westdeutsche Studierende mit Ar­bei­te­rIn­nen aus Lateinamerika solidarisch erklärten?

Ich glaube, man macht es sich zu leicht, wenn man dieser Art der Unterstützung den Wunsch nach und das Gefühl von Verbundenheit abspricht. In der Praxis gibt es ja unglaublich viele Widersprüche, die Aktivistinnen und Aktivisten der Dritte-Welt-Bewegung haben darüber selber intensiv diskutiert. Das mag eine Geschichte sein, die von überzogenen Erwartungen geprägt ist, die von Enttäuschungen begleitet ist, bisweilen auch von mangelnder Sachkunde. Aber ich halte es für falsch, ihnen Zynismus zu unterstellen.

Und worin liegt die Augenhöhe?

Die Fragen der ungerechten Landverteilung, der demokratisch-sozialistischen Revolution wurden nicht nur als ein Problem Mittelamerikas, sondern als Teil einer globalen Auseinandersetzung wahrgenommen. Insofern würde ich das durchaus als eine Solidaritätsbeziehung sehen. Eine, die auch Ausdruck einer Pluralisierung von Solidaritätsbeziehungen ist, wie wir sie seit den 70er Jahren beobachten können. Denn hier werden Gruppen aktiv, Studierende, auch die Kirchen, die bis dahin nicht solidarisch mit der internationalen Arbeiterinnen-und-Arbeiter-Bewegungen waren.

Wie zufällig sind diese Beziehungen? Warum erklären sich jetzt so viele solidarisch mit der Ukraine, aber im Vergleich so wenige mit dem Jemen, wo die Menschen ebenso in Not sind?

Es gibt in der öffentlichen Wahrnehmung eine deutlich größere gefühlte Nähe zur Ukraine als gegenüber Geflüchteten aus Syrien oder aus Afrika. Und das hat ganz sicher auch etwas mit rassistischen Stereotypen zu tun – mit der Annahme, dass man sich mit Europa näher als mit anderen Räumen dieser Welt verbunden fühlt. Das ist aber, glaube ich, nur ein Teil. Ein zweiter Teil gehört ganz sicher auch zu den Lernerfahrungen solidarischer Praktiken aus den Jahren 2015 und 2016 – seitdem gibt es ein relativ großes institu­tionelles Know-how bestimmter Formen der Unterstützung.

Manche Stimmen sagen: Echte Solidarität heißt, die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, zu verändern. Geldspenden für die Ukraine seien daher keine echte Solidarität. Benutzen wir den Begriff zu infla­tio­när und verwässern damit seinen auch umstürzlerischen Charakter?

Der Begriff hat nicht zuletzt durch die Pandemie eine fast unerträgliche Form des inflationären Gebrauchs erfahren, die kaum mehr zu erkennen gibt, was damit denn eigentlich gemeint ist. Wir können die Widersprüche, die in diesem Begriff stecken, in der Pandemie nicht zuletzt ja auch daran erkennen, dass es einen großen Ausbruch an Solidaritätsappellen und nachbarschaftlicher Hilfe gab. Und zugleich aber einen spürbaren Impf­na­tio­na­li­smus und eine ungleiche Verteilung von sozialen Ressourcen. Oder daran, wie hitzig die Debatten über die Aufnahme einiger weniger geflüchteter Kinder aus Moria waren, bei denen die Mauern ziemlich schnell wieder hochgezogen wurden.

Was macht Solidarität wirklich glaubwürdig?

Ich könnte gar nicht genau definieren, was denn nun eine echte und was eine falsche Solidarität ist. Ich würde auch ungern die Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine ausspielen gegen andere Unterstützung. Gleichzeitig hätte ich mir persönlich 2015 eine ähnliche Unterstützung, beispielsweise in der Frage der Übernahme in die Grundsicherung, gewünscht, wie wir sie jetzt ziemlich schnell erlebt haben. Da erkennt man eben auch die politischen Kämpfe, die damit verbunden sind.

Waren Solidaritätserklärungen immer schon ein Mittel, um sich in politischen Flügelkämpfen abzugrenzen?

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Solidarität als politischer Kampfbegriff und die Appelle zur Vergemeinschaftung sind aus meiner Sicht überhaupt nichts Neues, sondern eine Kontinuität, die wir seit dem 19. Jahrhundert beobachten können, auch innerhalb der Arbeiterinnen-und-Arbeiter-Bewegung in den 20er Jahren zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Die ist voll von solchen Solidaritätsappellen.

Während der Pandemie hören wir auch viele solcher Appelle.

Die Pandemie hat die Konjunktur dieses Begriffs noch mal beschleunigt. Aber es ist nicht lange her, dass auch die alten sozialen Bewegungen, die Solidarität ursprünglich so groß gemacht haben – also Gewerkschaften und Arbeiterbewegung –, ihn nicht mehr in das Zentrum ihres Nachdenkens gestellt haben. Ab und zu ist er in den programmatischen Debatten innerhalb der Sozialdemokratie in den 2000er und 2010er Jahren aufgetaucht, aber er hat doch an Bedeutung verloren. Noch vor fünf Jahren wäre das etwas gewesen, womit Sie wahrscheinlich selbst in der taz kaum mehr jemand hinterm Ofen hervorgeholt hätten.

Warum ist das jetzt anders?

Ich würde argumentieren, dass die Konjunktur des Solidaritätsbegriffs zusammenfällt mit der Erosion sozialer Milieus. Wir reden immer häufiger über Solidarität: jetzt, wo es die lebensweltliche Bindung wie in der alten Arbeiterbewegung oder den kirchlichen Milieus zunehmend weniger gibt. Aber erstens ist weder die alte Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung immer dauerhaft solidarisch gewesen. Und nur, weil Solidaritätsbekundungen zunehmend als individuelle Entscheidungen gefällt werden, bedeutet das nicht, dass sie qualitativ weniger wert sind. Daraus können ganz unterschiedliche Formen von Kooperationsbeziehungen entstehen, die sich viel stärker an die ganz praktischen Umstände unserer Zeit anpassen.

Wie systemverändernd ist eine Solidarität, die im Kapitalismus zum Beispiel darin besteht, einfach eine Marke zu wechseln, wenn sie unseren Idealen widerspricht?

Es stabilisiert natürlich das System, wenn das System der Solidarität der Kapitalismus an sich ist. Wenn man es aber vielleicht eine Nummer kleiner macht und Solidarität nicht darauf reduziert, am Ende den Kapitalismus abzuschaffen, dann steckt im Kon­su­men­t:in­nen­boy­kott eine große politische Entscheidung. In den Boykottkampagnen der 70er und 80er Jahre gegen das südafrikanische Apartheidregime zum Beispiel wurde nicht der Kapitalismus gestürzt, aber doch eine ziemlich große Reichweite der politischen Bewegungen über Grenzen hinaus mobilisiert. Im digitalen Zeitalter können sich Solidarbeziehungen auch über Klicks und Likes äußern. Natürlich ist das für ­jemand, der Solidarität nur in Ortsgruppen oder in großen kollektiven Aktionen denkt, ziemlich dürftig. Wenn man sich die soziale Wirklichkeit von Usern ansieht, in der Klicks und Likes durchaus eine reale Bedeutung haben, dann würde ich das nicht als zu gering erachten.

Sie schreiben in Ihrem Buch auch vom beunruhigenden Element der Solidarität. Was meinen Sie damit?

Dass Praktiken der Solidarität am Status quo, auch an den Verhältnissen rütteln können, an den Ungerechtigkeiten dieser Welt, könnte man etwas pathetisch sagen. Sie kostet auch, wenn man beispielsweise über gerechte Produktion von Gütern oder die Veränderung von Lebensweisen spricht. Und das ist unbequem. Das tun nicht alle gleichermaßen. Aber es ist doch ein wichtiger Teil von Solidaritätsbewegungen. Sie haben ein utopisches Potenzial, und darin unterscheiden sie sich von anderen sozialen Bewegungen.

Solidarisch nennen sich auch rechtsextreme Gruppierungen, die in der Pandemie Nachbarschaftshilfe nur für Deutsche anboten.

Die versuchen, den Solidaritäts­begriff mit einem völkischen Wohlfahrtsstaat neu zu kodieren. Wobei ich der Überzeugung bin, dass es so ­etwas wie völkische Solidarität nicht gibt, weil sie mit dem eigentlichen Kern, mit dem universalen Aspekt, nichts zu tun hat.

Was macht den Solidaritätsbegriff immer wieder so populär?

Ganz sicher das Versprechen ge­sellschaftlichen Zusammenhalts. Dahinter steckt die ja auch berechtigte Hoffnung, dass eine zerklüftete, sich ­zunehmend ungleichartig empfindende Gesellschaft irgendwie wieder zusammenhalten könnte. Deshalb ­verwenden ihn auch ganz unterschiedliche politische Kräfte – im Übrigen ­unabhängig davon, was denn ganz konkret mit gesellschaftlichem Zusammenhalt gemeint ist. Denn das ist ja eine hoch umstrittene Frage. Aber der Begriff ist in gewisser Weise eine ­Konsensmaschine geworden, deren Gebrauch ganz verschiedene po­litische Konzepte zu integrieren scheint.

Das heißt, wenn wir uns für die Ukrai­ne engagieren, tun wir das nicht nur für die Ukraine? Es geht gleichzeitig auch um uns als Gesellschaft, die dadurch das Gefühl hat, das Richtige zu tun?

Ganz sicher. Solidarisch mit der Ukrai­ne zu sein bedeutet auch eine gesellschaftliche Konsensfindung. Zugleich werden aber auch die Spannungen deutlich, in der Frage beispielsweise, wie weit die Solidarität noch reicht: Sind Waffen Ausdruck von Solidarität? Hier endet der Konsens.

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