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Historiker Mak über die Türkei"Geschichte wurde ausradiert"

Zur Modernisierung der Türkei gehört auch die Aufarbeitung der Armenier-Massaker, meint Historiker Geert Mak. Doch wenn Europa sie zu sehr dazu drängt, spielt das nur den Nationalisten in die Hände.

Verbindungsstück zwischen Ost und West: die Galata-Brücke in Istanbul. Bild: dpa

taz: Herr Mak, als Historiker gesprochen: Gehört die Türkei geschichtlich gesehen zu Europa?

Bild: dpa

GEERT MAK, 61, ist Historiker und Journalist; er lebt in Amsterdam. Nach dem Mord an Theo van Gogh trat er durch scharfe Kritik an Politik und Medien in seinem Land hervor. Sein jüngstes Buch "Die Brücke von Istanbul" handelt von der berühmten Galata-Brücke am Goldenen Horn. Es ergänzt seinen Essayband "In Europa", in dem er anhand ausgewählter Schauplätze die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert erzählte.

Das hängt davon ab, wie weit man in der Geschichte zurückgeht. Bis 1453 war Istanbul zweifellos die wichtigste Stadt Europas, bevor sie an das Osmanische Reich fiel. Atatürk hat sich für den Weg nach Europa entschlossen - so, wie Zar Peter der Große es für Russland getan hat, als er Sankt Petersburg als europäische Stadt gründete.

Russland geht seinen eigenen Weg; die Türkei will in die EU. Passt sie auch in die EU?

Ich halte es für wichtig, die Türkei auf die europäische Seite zu ziehen: Die islamische Welt braucht eine erfolgreiche Führungsnation, und wir brauchen eine Brücke in die muslimische Welt. Klar, dass da noch ein langer Weg vor uns liegt: Ich denke da nicht an die nächsten fünf bis zehn Jahre, sondern an zwei oder drei Generationen.

Ihr neues Buch "Die Brücke von Istanbul" handelt von der berühmten Galata-Brücke am Goldenen Horn. Warum?

Das Buch dokumentiert das Leben von Menschen, die in gewisser Weise am Rande des Westens und seines Reichtums leben. Zur Recherche habe ich vier bis fünf Wochen lang quasi auf der Galata-Brücke gelebt, die den westlich orientierten Stadtteil Pera und das islamisch geprägte Stambul verbindet. Ich habe viel Zeit damit verbracht, im Regen Tee zu trinken und Gespräche zu führen und so die Leute dort kennen zu lernen.

Was waren das für Menschen?

Sehr einfache Leute. Die hatten oft ein schweres Leben und sind trotzdem nicht der Versuchung erlegen, dem Radikalismus, dem Egoismus oder dem Zynismus zu verfallen. Sie versuchen, sich ihre Würde zu bewahren - so wie Franz Biberkopf in "Berlin Alexanderplatz". Dem ist das allerdings bekanntlich nicht so gut gelungen

Die Situation der Tagelöhner, die Sie auf der Brücke getroffen haben, verweist auf das starke ökonomische Gefälle innerhalb der Türkei. Spricht das nicht gegen einen EU-Beitritt?

Bulgarien und Rumänien sind auch zwei sehr arme Länder, in denen zudem viel mehr Korruption herrscht. Und sie stehen, wie Griechenland, in der orthodoxen Tradition: Sie haben nicht die Aufklärung und nicht die Renaissance mitgemacht. Damit hat die EU ihre kulturelle Grenze bereits erweitert. Die Türkei ist schon ein ziemlich modernes Land, sie kennt die Trennung von Staat und Religion. Wir sollten sie jedenfalls nicht zurückstoßen, nur weil sie ein islamisches Land ist: Das wäre gefährlich.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch den türkischen Ehrbegriff an, der bei vielen Konflikten mit dem Westen eine Rolle zu spielen scheint. Halten Sie ihn für wichtiger als die Religion?

Er steht zumindest manchmal über der Religion. Ich war gerade in Istanbul, als der Streit um die dänischen Karikaturen eskalierte, und habe mit den Leuten auf der Galata-Brücke darüber diskutiert. Diese Leute sind nicht sehr gläubig, nur einer ist regelmäßig in die Moschee gegangen. Aber religiöse Traditionen wie das Fasten im Ramadan sind für sie ein Teil ihres geistigen Überlebens, so wie auch ihr Begriff von Ehre. Denn wenn man sehr arm ist, dann sind Ehre und der Respekt der anderen oft das Einzige, was man noch hat. Durch diese dänischen Karikaturen fühlte man sich nicht so sehr in seinen religiösen Gefühlen verletzt. Man war vielmehr beleidigt, weil man das Gefühl hatte, dass sich da jemand über das Wenige, was man hat, lustig macht.

Hatte überhaupt jemand die Karikaturen gesehen?

Nein, das meiste kam vom Hörensagen. Und natürlich wurden die Karikaturen für organisierte Proteste genutzt: Es gibt ja immer Leute, die das Feuer am Lodern halten wollen. Wenn man solche Karikaturen in Rotterdam oder Hamburg publiziert, ist das kein Problem. Doch durchs Internet werden sie auch in Saudi-Arabien, Pakistan oder Istanbul publik, nur geht der Kontext dabei verloren. Ich glaube, wir werden durch das Internet in Zukunft mehr von diesen Problemen bekommen.

Sie haben mit den Menschen dort auch über den Mord an Theo van Gogh gesprochen, doch der war fast niemandem ein Begriff. Warum?

Sehen Sie, die Leute versuchen den ganzen Tag, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie haben nicht viel Zeit, Zeitungen zu lesen oder Debatten zu führen. Aber wir haben über den Fall geredet. Und es gab einen heftigen Disput, weil einer, der etwas fundamentalistisch angehaucht war, sagte: Ja, schade um ihn, aber er musste umgebracht werden. Die anderen waren erschüttert und haben heftig widersprochen: Niemand habe das Recht, auch nicht nach dem Koran, jemand anderem den Tod zu wünschen. Ich denke, solche Debatten sind symptomatisch. Auch die Mörder von Theo van Gogh wussten ja nicht viel über den Koran. Die haben sich ihren eigenen Islam im Internet zusammengebastelt.

Welche Rolle spielen Fragen der Ehre, wenn es um die türkische Haltung zum Genozid an den Armeniern geht?

Ich denke, das hat mehr mit unterschiedlichen Prozessen der Modernisierung zu tun. Die radikale Modernisierung der Türkei unter Atatürk in den 20er- und 30er-Jahren bedeutete, dass die Geschichte vergessen und ausradiert wurde - nicht nur die armenische, sondern auch die osmanische Geschichte. Für Jahre war es verpönt, darüber zu sprechen. Jetzt fängt man langsam wieder an, sie wiederzuentdecken: die osmanische Küche etwa, die unglaublich raffiniert ist, oder die osmanische Musik und Literatur. Auch über die dunklen Seiten der Geschichte wollte man nichts wissen. Es ist wie ein dunkles Familiengeheimnis, über das man nicht reden will. Aber das ändert sich gerade: Die türkische Regierung will den Artikel 301 streichen, der eine offene Debatte verhindert, und es gibt viele türkische Historiker, die das Thema ernsthaft untersuchen wollen. Damit beginnt eine zweite, tiefere Modernisierung der Türkei.

Durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit?

Die deutsche "Vergangenheitsbewältigung" war ein sehr eindrucksvoller Prozess: das habe ich nicht in vielen anderen Ländern gesehen. Wir Holländer und die Belgier haben das noch vor uns mit unserer kolonialen Geschichte, die Franzosen fangen gerade an mit Vichy. Und ich glaube, auch in der Türkei fängt das gerade an.

Hilft der Druck aus Europa?

Was Frankreich und die USA gemacht haben, war schlecht: Als Journalist und Historiker finde ich, dass man nie eine Meinung verbieten oder Menschen auf eine Meinung verpflichten sollte. Man sollte von der Türkei also verlangen, dass sie den Artikel 301 streicht. Wir im Westen sollten aber auch wissen, dass dieser Paragraf immer wieder von einer bestimmten Gruppe von Nationalisten instrumentalisiert wird, die nicht will, dass die Türkei in die EU kommt. Man zieht gegen Schriftsteller wie Orhan Pamuk oder Elif Safak vor Gericht, weil man weiß, dass man dadurch im Westen maximale Aufmerksamkeit bekommt. Man interessiert sich nicht für Pamuk oder Safak. Man will eine Reaktion des Westens provozieren. Es ist ein Spiel, aber es geht weiter. Auch mein Buch konnte in der Türkei noch nicht publiziert werden. Wir suchen nach einem Verleger. Aber nach dem Mord an Hrant Dink sind die Leute sehr ängstlich geworden.

INTERVIEW: DANIEL BAX

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