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Hilka Dirks Kolumne Ausgehen und Rumstehen

Ich fühle die Anstrengung des Sozialen – als hätte ein riesiger, unsichtbarer Bernhardiner seine Pfoten auf meinen Schultern abgelegt Foto: Nino Gehrig/plainpicture

Dunst schlägt uns entgegen, als wir die Wohnung im obersten Hinterhausstockwerk erreichen. P. hat Geburtstag, sein Sohn steht in der Tür. Mit ihm quellen Gelächter, feuchte Körper unter zu dicken Kaschmirpullovern, Besteckklirren, Parmesan, ausgeatmeter Sekt und Lichter wie auf einem dicken, alten Gemälde – dickes Rot, pulsierendes Gold, tropfig-schwarze Schatten – ins Treppenhaus.

Jacken werden abgelegt, Menschen begrüßt, Suppe gereicht, der Raum abgesucht. Wer ist da? Wen kennt man? Bei wem weiß man, wer es ist? Später auf dem Sofa sagt E.: „In der Kultur sind das Private und Berufliche nie getrennt. Sie bluten ineinander, was man macht, spielt immer eine Rolle, weil es irgendwann eine Rolle spielen könnte.“ Vielleicht sagt sie es auch anders, der müde Glimmer im Kopf verwischt die Erinnerung.

In diesem Moment kann ich die Anstrengung des Sozialen körperlich fühlen, als hätte ein riesiger, unsichtbarer Bernhardiner seine Pfoten auf meinen Schultern abgelegt. Ich fühle mich E. sehr nah. C. erzählt eine Liebesgeschichte. P. rutscht mit aufs Sofa und legt den Arm um mich. Tauscht sein Gewicht gegen die schweren Füße des Geisterhundes.

Im grauen Tageslicht treten mit jeder Drehung des Körpers die Muskeln am Unterarm des jungen Baristas hervor, während er den Siebträger in die Maschine einhakt. Es zischt. Braun und langsam quillt der Espresso in die Tasse. Ich bezahle zu viel Geld, während ich seinen Vokuhila registriere, den Ohrring, das verschlissene Shirt. Ich denke an eine Performance im neuen Projektraum Klix vor wenigen Tagen. An den Schlagzeuger Stefan Blüml und die Künstlerin Olga Hohmann. An das Scheppern und Bummern der Instrumente, an eine mit Gaffa-Tape auf das Becken geklebte Cent-Münze, an Olgas Mund, aus dem die Worte herausfielen.

An die ungebrochenen Retro-Outfits des Publikums, dieser sehr schönen Menschen. „Kurt Cobain wäre super angepisst davon, dass junge Leute wieder sein Gesicht auf T-Shirts tragen“, hatte irgendwer gesagt. Ich denke an Lederjacken und Mottenkugeln, an Comme-des-Garçons-Parfum, nikotinverfärbte Fingerspitzen und frische Wandfarbe. An Nina Hagens verzerrtes Gesicht, geklebt auf ein Ei, hängend an der Wand im Projektraum. Eine Edition von Niclas Riepshoff. Ich muss sie noch abholen.

Stattdessen betrachte ich Spinnweben hinter Glas von Tomaś Saraceno bei Neugerriemschneider. In den Stallgebäuden meines Großvaters auf dem Land hängen sie frei, dunkel vom Staub gehören sie dort nur sich selbst. Ebenso im Materiallager eines Zimmermanns auf einem Neuköllner Hinterhof, daneben ein Brunch im Atelier befreundeter Künstler. L. sitzt auf der Bank davor, mein Herz wächst, als ich sie sehe. Ich knie mich hin, sie gibt mir lachend einen Kuss auf die Stirn. Eine Gruppe Kinder tobt an uns vorbei, ein Mädchen trägt ein anderes auf den Schultern, der lange Mantel der oberen lässt die beiden von hinten wie einen schwankenden, spillerigen Riesen erscheinen. Der Geisterhund schnüffelt irgendwo weit weg an einer Straßenlaterne. Das Leben ist gut.

Dunkelheit drückt gegen die Scheiben, als ich am Sonntagabend erneut in einem Hinterhof in ein oberes Stockwerk klettere. Vielleicht war es auch nicht hell geworden, ich hatte nicht darauf geachtet. Die Künstlerin Katrin Steiger zeigt neue Textilarbeiten in einer Neuköllner Wohnung. Grelles Neonlicht auf Raufasertapeten. Es riecht nach Menschen, die nicht mehr dort sind. Knüpfwerke aus DDR-Material, der Nachlass ihrer Großmutter. Steiger nennt es liebevoll „Archiv“, spricht über die Werke wie über Lebewesen. Man möchte die Arbeiten streicheln.

Sie spricht über die Werke wie über Lebewesen. Man möchte die Arbeiten streicheln

Zurück auf der Straße zieht die Luft wie Tinte in die Lungen. Am Balkon gegenüber blinkt die Weihnachtsbeleuchtung in lautloser Raserei. So wie das Internet. Oder mein Herz. In wenigen Tagen ist das Jahr vorbei. Auch das ist gut. Ich kann es fühlen.

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