Hilfefinder-App für Straßenkinder: Ein Weg aus dem Dschungel
Rund 1.500 Straßenkinder gibt es in Berlin, darunter auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Eine Handy-App namens „Mokli“ soll sie unterstützen, Hilfe zu finden.
Viel weiß man nicht über minderjährige Flüchtlinge, die auf der Straße leben. Aber das, was bekannt ist, ist alarmierend. Etwa die Geschichte von den afghanischen Jugendlichen, die im Tiergarten schlafen und anschaffen – für Essen, manche auch für Heroin. Als das Bundeskriminalamt im Vorigen Jahr erklärte, rund 9.000 Flüchtlingskinder seien „verschwunden“, schreckte die Öffentlichkeit kurz auf.
Zwar dürften sich die meisten dieser Kinder und Jugendlichen schlicht nicht abgemeldet haben, als sie sich zu Verwandten oder Freunden in andere Städte aufgemacht haben. Aber die Tatsache bleibt: Immer wieder fallen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, im Amtsdeutsch UMF genannt, aus den staatlichen Hilfesystemen. Oder sie sind nie darin angekommen. Sie verschwinden von der amtlichen Bildfläche, so wie es bisweilen mit hiesigen Kindern geschieht, die von ihren Eltern, aus Pflegefamilien oder Jugendhilfeeinrichtungen abhauen – oder gar rausgeworfen werden.
Für all diese „Draußenkinder“ hat der Verein Karuna, der sich um Straßen- und Flüchtlingskinder kümmert, jetzt eine Hilfefinder-App entwickelt – zunächst in Deutsch, Arabisch, Englisch und Polnisch. Weitere Sprachen sollen folgen. „Mokli – die App für Kinder in der Kälte“ gebe Jugendlichen „ein Werkzeug an die Hand, sich selbst besser helfen zu können“, erklärt der Gründer und Leiter von Karuna, Jörg Richert. Der Name spielt an auf den Jungen Mogli, der im Dschungel lebt und nicht weiß, woher seine nächste Mahlzeit kommt oder wo er in der nächsten Nacht schlafen soll.
Die Anwendung funktioniert wie ein Wegweiser: Mittels einer interaktiven Landkarte können die NutzerInnen einen sicheren Schlafplatz finden, eine Essensausgabe oder einen Arzt. Ob der Hund mitgenommen werden darf, ist auch vermerkt. Zudem gibt es Adressen von Suchtberatungen, Rechtshilfen, Seelsorgen sowie Anlaufstellen für Jungen und Mädchen, die weg von der Straße wollen. Über 3.000 Versorgungs- und Beratungsstellen bundesweit seien in der App zu finden, so Richert.
Am kommenden Dienstag wird die App fürs Smartphone der Öffentlichkeit vorgestellt. Mokli ist einer von zehn Gewinnern der „Google Impact Challenge 2016“ und wurde von dem Internet-Konzern mit 250.000 Euro gefördert.
Wer will, kann sich die webbasierte Anwendung schon jetzt unter www.mokli-help.de anschauen. Die Idee dazu kam von Straßenkindern, die vom Berliner Verein Karuna betreut werden.
Mit dem Geld wurde laut Karuna nicht nur die App entwickelt, sondern auch ein Werbefilm für die sozialen Medien gedreht. Zudem soll die Anwendung mit großflächiger Werbung, etwa an Bahnhöfen, an denen sich viele "Draußenkinder" aufhalten, bei der jugendlichen Klientel bekannt gemacht werden.
Plakate, Flyer und Visitenkarten sollen auch in den 3.000 Einrichtungen verteilt werden, die bis jetzt bundesweit in der App als Anlaufadressen gelistet sind. (sum)
Über 600 UMF mit „unbekanntem Aufenthalt“
In Berlin leben laut der zuständigen Senatsverwaltung für Jugend rund 2.600 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Von den zwischen 2015 bis Anfang Februar 2017 nach Berlin eingereisten UMF würden insgesamt 624 mit dem Status „unbekannter Aufenthalt“ geführt – mit anderen Worten: Sie seien nicht in den Unterkünften, denen sie zugeteilt wurden, und die Behörden kennen deren Aufenthaltsort nicht. Die Träger der Unterkünfte seien dann angehalten, Vermisstenanzeigen bei der Polizei zu erstatten. Wie viele „Draußenkinder“ es insgesamt in Berlin gibt, weiß niemand genau. Richert schätzt ihre Zahl auf 1.500 bis 1.700.
Auf die Frage, warum immer wieder minderjährige Flüchtlinge verschwinden, hat der Karuna-Chef, dessen Verein unter anderem ein Wohnprojekt für Straßen- und Flüchtlingskinder betreut, mehrere Antworten. Da gebe es zum einen jene, die in der Tat nur Verwandte in anderen Städten besuchten und sich in ihrer Einrichtung nicht abmeldeten. Denn oft, sagt Richert, sei den Jugendlichen gar nicht bewusst, dass sie einen festen, für sie zuständigen Betreuer haben, weil diese aufgrund der vielen Flüchtlinge im vorigen Jahr völlig überlastet waren. „Erst langsam wird es ruhiger und die Sozialarbeiter können sich besser um die Jugendlichen kümmern.“
Jörg Richert, Leiter Karuna e.V.
Dann gebe es Jugendliche, die wegen Konflikten mit anderen Jugendlichen wegliefen, so Richert. „Es gibt zum Beispiel starke Abgrenzungen zwischen afghanischen und syrischen Jungs.“ Schließlich gebe es die Flucht aus schlechten Betreuungseinrichtungen, sagt er – und meint „schlecht im Sinne einer starken Fremdbestimmung der Jugendlichen, einer starken Verbotskultur. Wer sich da nicht unterordnet, wird ‚delinquent‘, wie es dann heißt, oder aggressiv oder geht weg.“
Aber wohin? Die Stationen dürften ähnlich sein wie bei deutschen Jugendlichen, die weglaufen: erst zu Freunden, dann zu entfernteren Bekannten, am Ende kommen Bahnhof, Park, Straße. „Wo soll man suchen?“, fragt Richert.
„Zugangsmöglichkeit“ für Sozialarbeiter
Man kann solche Kids eigentlich nur finden, wenn sie gefunden werden wollen und sich melden – ab jetzt zum Beispiel über Mokli. Ein „niedrigschwelliges“ Angebot nennt es Richert – und zugleich eine „Zugangsmöglichkeit“ für Sozialarbeiter, an die Kinder und Jugendlichen heranzukommen. „Man gibt ihnen erste Hilfe, etwas zu essen, und versucht, langsam Vertrauen aufzubauen“, beschreibt er die Strategie hinter der Smartphone-App.
Dazu soll mit der App auch eine Notfall-WhatsApp-Gruppe ausgebaut werden, in der 40 bis 60 ehemalige Straßenkinder versammelt sind: ein Netzwerk gegenseitiger Hilfe, das man anfunken kann, etwa wenn ein Freund selbstmordgefährdet ist und man Rat braucht. Derzeit, erklärt Richert, würden die Jugendlichen der Gruppe in einer Weiterbildung geschult, „damit sie nicht retraumatisiert werden, wenn sie anderen helfen“.
Und wenn Mokli nun richtig einschlägt und die WhatsApp-Gruppe bald überschüttet wird mit Hilferufen von Straßen- und Flüchtlingskindern in Not? Richert zeigt sich optimistisch, dass er dann einen Topf finden wird, aus dem er Personal finanzieren könnte. „Für gute Ideen gibt es immer irgendwo Geld.“
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