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Hilfe für MissbrauchsopferVier weitere verlorene Jahre

Trotz aller öffentlicher Aufregung gibt es kaum Hilfe für Missbrauchsopfer. Eine Gesetzesnovelle lässt Jahre auf sich warten und dem Hilfefonds fehlt Geld.

Traumatisierte erinnern sich oft nur bruchstückhaft – und gelten deshalb als unglaubwürdig. Bild: dpa

BERLIN taz | Es ist eine ungewöhnliche Vorstellungsrunde. „Ich bin Betroffene rituellen Missbrauchs in der Kindheit“, sagt die eine, der andere hat an der Odenwaldschule gelitten, die dritte sagt, ihr Missbrauch habe im Rahmen der evangelischen Kirche stattgefunden, der vierte kommt vom Canisiuskolleg. 15 solcher Biografien versammeln sich im neuen Betroffenenbeirat des Missbrauchsbeauftragten Johannes-Wilhelm Rörig, der am Freitag vorgestellt wurde.

Vielen von ihnen ist eine gewisse Wut anzumerken, die Rörig in Worte fasst: „Seit vier Jahren warten wird auf die Reform des Opferentschädigungsgesetzes (OEG). Und es gibt immer noch keinen Referentenentwurf“. Dass die Lage der Betroffenen von sexuellem Missbrauch sich bisher trotz aller Öffentlichkeit kaum geändert hat, ist ein Grund für den Beirat, nun tätig zu werden. Noch immer werden laut BKA in Deutschland täglich 40 Kinder missbraucht. Die Betroffenen zählen noch sechzig dazu, die Dunkelziffer. Weder die Prävention hat bisher gegriffen, noch die Opferbegleitung.

Der Hilfefonds, der die Zeit bis zu einer Novelle des OEG überbrücken sollte, wurde von den meisten Bundesländern einfach nicht bestückt. Nun wird der nur halb gefüllte Topf 2016 schon wieder zurückgezogen. Aber ein Gesetzentwurf ist immer noch nicht in Sicht. Bis ein neues OEG auch von den Ämtern umgesetzt würde, könne es bis 2020 dauern, so die Auskunft aus dem Arbeitsministerium. „Das ist eine erschreckende Jahreszahl“, so Rörig. Vier weitere verlorene Jahre kommen auf die Betroffenen zu.

Das bisherige Gesetz hat viele Lücken, die die Entschädigung von Missbrauchsopfern fast unmöglich machen. So werden DDR-Opfer und Menschen, denen vor 1976 diese Gewalt zugefügt wurde, nur anerkannt, wenn sie zu 50 Prozent schwerbehindert sind. Es wird nach ZeugInnen verlangt, die die Tat bestätigen können. Gutachter sollen die Glaubwürdigkeit der Opfer überprüfen. Sie sind aber oft mit Traumafolgen nicht vertraut.

So können manche Traumatisierte das Erleben nur noch bruchstückhaft wieder geben und auch den Zeitraum nicht genau benennen. Als glaubwürdig gilt aber gerade detailreiches Erzählen. Die Folge: Nachdem sich die Betroffenen der Gefahr der Retraumatisierung ausgesetzt haben und ein weiteres Mal die Erfahrung machten, dass ihr Erzählen für nicht glaubhaft gehalten wird, erhalten sie oft einen ablehnenden Bescheid.

Das Engagement ist verbraucht

Die 45-jährige Journalistin Kerstin Claus wurde in der evangelischen Kirche missbraucht. Als man ihr nach langen Jahren des Leugnens endlich zuhörte, sollte sie zuerst eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Sie hat sich durch das OEG gekämpft, bis ihr eine Entschädigung zuerkannt wurde. Doch die zuständigen Ämter streiten, wer nun genau zahlen soll.

Die Folge: Sie war ein Dreivierteljahr ohne Einkommen und dementsprechend auch ohne Krankenversicherung. Mit der Krankenkasse aber hatte sie gerade darum gestritten, ob die eine Traumatherapie bezahlt, in der eine Methode angewandt wird, die nicht im offiziellen Leistungskatalog enthalten ist – nachweislich aber vielen Traumatisierten geholfen hat.

Warum der Entwurf des OEG so lange auf sich warten lässt, kann im Ministerium niemand so recht sagen. Die Betroffenen haben den Eindruck, dass das Engagement vom Anfang schlicht verbraucht ist. Deshalb fordern einige von ihnen einen neuen „runden Tisch“, mit allen Beteiligten, der den Gesetzentwurf beschleunigen soll. Der Runde Tisch war es nämlich gewesen, der den Reformbedarf schon festgestellt hatte – im Jahr 2011.

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19 Kommentare

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  • "Die 45-jährige Journalistin Kerstin Claus wurde in der evangelischen Kirche missbraucht. Als man ihr nach langen Jahren des Leugnens endlich zuhörte, sollte sie zuerst eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben."

     

    Funktionäre der Katholische Kirche gehen ähnlich vor. Ist eigentlich geklärt, inwieweit solche "Verschwiegenheitserklärungen" juristisch überhaupt verbindlich sind?

     

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden

  • "Warum der Entwurf des OEG so lange auf sich warten lässt, kann im Ministerium niemand so recht sagen."

     

    Ganz einfach: man wird umverteilen müssen, wenn man mit den bisherigen Geldern auskommen und trotzdem auch Missbrauchsopfern zu ihrem Recht verhelfen will.

     

    Damit könnte man aber diverse Behinderten- und Sozialverbände auf den Plan rufen. Und die werden von den Verantwortlichen offenbar für gefährlicher und einflussreicher eingeschätzt als die Missbrauchsopfer. Von denen ja ohnehin die wenigsten organisiert sind.

     

    Ein zweiter Punkt: es kehren immer mehr Soldaten traumatisiert von Auslandseinsätzen zurück. Die bekommen ihre Opferentschädigung zwar über ein anderes Gesetz, kosten aber auch Geld. Die Länder würden sowieso die Opferentschädigung gern ganz dem Bund überhelfen.

     

    Es ist also mit dem OEG wie sonst auch in der Politik. Letztlich geht es immer um Geld. Und da schiebt einer dem anderen so lange den schwarzen Peter zu, bis jemand das Spiel unterbricht ;-)

  • Zum Thema "Wut": ja die springt einen schon einmal an, wenn man sich mit der Materie befasst. Vor allem auf praktischer Ebene.

     

    Wut kann ein guter Antrieb sein. Auf Dauer kostet sie den Wütenden aber nur Energie. Und schlimmstenfalls erzeugt sie im Gegenüber Angst und Abwehr. Meistens offenbaren sich durch sie nur unnötig Schwächen, die die Gegner dann für ihre Zwecke ausnutzen.

     

    Ich hoffe, dass der Betroffenenrat während seiner Amtszeit viel mehr Anlass zur Freude über Erreichtes und gelungene Projekte hat, als Gründe wütend zu sein.

  • Die Empfehlungen des Runden Tisches sind gut und angemessen. Nun hat aber ein Runder Tisch keine Befugnis, politische Veränderungen zu initiieren. Das ist Sache der gewählten Volksvertreter und der Administration. Und dort gilt ein Grundprinzip: es wird eher reagiert, denn agiert.

     

    Die Missbrauchsdebatte, die 2010 mit dem "Canisiusday" einsetzte, war wichtig. Sie hat viel verändert. Vor allem in den Köpfen der Menschen. Bis die sich aber in politischen oder strukturellen Veränderungen niederschlagen dauert es.

     

    Die 15 Missbrauchsopfer, die sich im Betroffenenrat engagieren zeigen mutig ihr Gesicht und teilen ihre Sicht und ihre Erfahrungen mit Politik und Öffentlichkeit. Ich hoffe, dass es ihnen viele Menschen nachtun. Denn dann passiert auch was. Nur wer sichtbar ist, wird auch wahrgenommen. Und die für die Politik und Hilfeleistungen Verantwortlichen werden nur dann wirklich tätig werden, wenn sie den Eindruck bekommen, dass sie im Sinne vieler Menschen handeln. Den haben sie jetzt offenbar noch nicht.

     

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden

    • @Angelika Oetken:

      Frau Oetken, Sie schreiben selbst von „9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden“. Sind das den „für die Politik und Hilfeleistungen Verantwortlichen“ nicht genug, in deren „Sinne sie handeln“ könnten??? Ist es nicht eher so, dass das Thema einfach eines ist, das nach wie vor bei vielen - trotz gegenteiliger Bekundungen - Abwehr und Vermeidungsimpulse auslöst? Insider sprechen hier von der „Angst vor den Opfern“, denn ihre Wahrheit bedroht den schönen Schein bzw. das Sicherheitsgefühl vieler. Ich glaube vor diesem Hintergrund auch nicht, dass „aktivere Opfer“ mehr positive Resonanz (im Sinne von politischem Einsatz für sie, wie Sie ihn andeuten) erzeugen würden. Im Gegenteil: Sie würden vermutlich nur die Abwehr verstärken - und genau das wollen bzw. können sich viele Betroffene nicht antun. Auch das ist ein Grund, warum nicht jede/r mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit geht.

      • @Lilly Maier:

        "Insider sprechen hier von der „Angst vor den Opfern“, denn ihre Wahrheit bedroht den schönen Schein bzw. das Sicherheitsgefühl vieler. "

         

        Die Angst vor dem Thema ist vielen Menschen anzumerken. Sie wird dann auf leibhaftige Opfer projiziert.

        Aber auch in dieser Hinsicht gilt, dass man Menschen diese Angst im persönlichen Kontakt nehmen kann.

         

        Manchmal ergeben sich daraus auch ganz berührende Gespräche. Denn negative Erlebnisse und Empfindungen im Zusammenhang mit Sexualität kenne wohl die meisten Menschen. Auch die, die nie missbraucht wurden.

      • @Lilly Maier:

        Einige ExpertInnen und viele meiner MitstreiterInnen gehen davon aus, dass in Deutschland 9 Millionen Erwachsene leben, die eindeutig dem entsprechen, was gemeinhin als "Missbrauchsopfer" gilt. Also als Kinder etwas ausgesetzt gewesen zu sein, was in Juristendeutsch als "beischlafähnliche Handlung" bezeichnet wird.

        Aber den Entscheidungsträgern wird es nicht anders gehen als den meisten Bewohnern unseres Landes: ihnen ist das ganz und gar nicht klar. Von Einsiedlern abgesehen wird es bei uns wohl niemanden geben, der nicht mindestens eines dieser Opfer in seinem nächsten Umfeld hat. Fragen Sie mal ganz gewöhnliche Menschen, wie viele Betroffene sie persönlich kennen....

         

        Will sagen: so lange Opfer nicht als große, relevante, potentiell wahlentscheidende Gruppe wahrgenommen werden wird die Motivation Grundsätzliches für Opfer zu verbessern recht gering bleiben. Und wenn sich Betroffene nicht selbst aktiv für ihre Sache einsetzen bedeutet das, dass sie das weiterhin anderen überlassen müssen.

         

        Ich bin da aber guter Dinge und sage: "Meinen MitstreiterInnen ist durch ihr Outing nicht der Himmel auf den Kopf gefallen, mir auch nicht. Ganz im Gegenteil". In der Hoffnung, dass sich im Laufe der Zeit immer mehr Missbrauchsopfer öffentlich zeigen und sich engagieren.

  • „Das Kriterium A (Definition des traumatischen Ereignisses im DSM IV oder ICD 10) greift zu kurz, es wird nicht zwischen man-made-Desaster und Unfällen/Naturkatastrophen unterschieden. Es wird nicht zwischen verschiedenen spezifischen Traumata, sowie deren Kontext unterschieden, wodurch der Impakt auf die Person beeinflusst wird. Ebenso wird die individuelle und soziale Bedeutung des Traumas nicht beachtet, die die Traumatisierung und den ausgelösten posttraumatischen Prozess mit beeinflusst. Objektive situative Risikofaktoren, subjektive Risikofaktoren sowie individuelle Risikofaktoren, die die Schwere der Traumatisierung beeinflussen werden nicht berücksichtigt ebenso wenig die Dauer der traumatischen Einwirkung. Eine Differenzierung von einmaliger, kumulativer und sequentieller Traumatisierung fehlt.

    Reduziert man die Genese einer posttraumatischen psychisch reaktiven Störungen auf den Ereignisfaktor, wie er im Kriterium A des DSM IV definiert ist, ist oftmals die Ausprägung der Störung, wie sie sich zum Zeitpunkt X nach einem Trauma präsentiert, nicht hinreichend erklärt. Neben spezifischen Ereignisfaktoren, der Beziehung zu den Tätern sowie der Dauer der Einwirkung und der Bedeutung des traumatischen Ereignisse für die Person, wird im PTSD-Konzept weder die vorbestehende Persönlichkeit, ihr Kontext, ihr Grad der Reifung und ihre Widerstandsfähigkeit noch die Bedeutung der Sequenz nach dem Trauma (sensu Keilson) berücksichtigt. Somit kann auch keine Aussage über den Schweregrad einer Traumatisierung weder in Hinsicht auf den Auslöser noch in Hinsicht auf die Folgen in dieser allgemeinen Kategorie getroffen werden.“

    (Quelle: Dr. med. Mechthild Wenk-Ansohn, http://sbpm.web-com-service.de/?Literatur:Psychotraumatologie)

  • Im Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs vom Mai 2011 heißt es außerdem: „Von FACHLEUTEN wird darüber hinaus bezweifelt, ob die bei der Begutachtung im OEG anzuwendenden versorgungsmedizinischen Grundsätze die Einbeziehung neuer Forschungsergebnisse bei der Klärung des Kausalzusammenhangs ausreichend sicherstellen.“ (Seite 183, Mai 2011, http://beauftragter-missbrauch.de/file.php/30/Abschlussbericht_UBSKM.pdf)

  • Auch im Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs vom Mai 2011 wird festgehalten, dass es aktuell noch überhaupt nicht die Fachleute gibt, um Anträge/Angaben der Folgen und Zusammenhänge im OEG-Verfahren fachlich beurteilen zu können.

     

    Unter Punkt 7 „Hinderliche Aspekte bei der Verarbeitung“ heißt es dort:

     

    „Ganz offensichtlich gibt es auch im therapeutischen Berufsfeld einen allgemeinen Aus- und Weiterbildungsbedarf zum Thema sexueller Missbrauch. Dies geht aus den Erfahrungen Betroffener, den Aussagen von Expertinnen und Experten aus Pädagogik, Medizin und Therapie sowie aus der Online-Befragung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten hervor. Fachliches Wissen zum Thema sexueller Missbrauch ist überall dort notwendig, wo Betroffene Hilfe und Unterstützung bei Fachkräften suchen und diese deren spezifische Situation verstehen müssen, um angemessen helfen zu können. Fort- und Weiterbildungen für verschiedene Zielgruppen sollten deshalb verpflichtend vorgesehen werden.“

  • „Die in ICD-10 und DSM-IV formulierten Kriterien der PTSD [Posttraumatische Belastungsstörung] decken bei weitem nicht das Spektrum traumabedingter Störungen ab. Sieht man von den nach wenigen Tagen einsetzenden und spontan remittierenden Akuten Belastungsreaktionen ab, so findet sich noch eine beträchtliche Zahl an Störungsbildern, die im Zusammenhang mit traumatischen Einwirkungen entstehen können. In jedem Fall ist festzustellen, dass die vorwiegend an umschriebenen Ereignissen wie Krieg, Naturkatastrophen und Vergewaltigung erarbeiteten PTSD-Kriterien die vielgestaltigen Folgen und tiefgreifenden Persönlichkeitsstörungen im Gefolge schwerer und lang anhaltender personaler Traumatisierungen nur unzureichend erfassen. Aus diesem Grund wurde verschiedentlich Kritik an dem eng gefassten PTSD-Konzept in ICD10 und DSM-IV geübt. Die Kritik versucht dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Langzeitfolgen nach Traumatisierungen in Kindheit und Jugend, Folter oder Konzentrationslagerhaft weit über die in ICD-10 und DSM-IV definierte Symptomatik hinausgehen und die Persönlichkeit des betroffenen Individuums in nachhaltiger und umfassender Weise verändern können und dass keineswegs alle Opfer realer Traumatisierungen die Kernsymptomatik der PTSD entwickeln, sondern andere Symptombildungen im Vordergrund des klinischen Bildes stehen können.“

     

    (Quelle: Wöller, Siol, Liebermann: „Traumaassoziierte Störungsbilder neben der PTSD“, in: Posttraumatische Belastungsstörung, Leitlinie und Quellentext, Schattauer Verlag, 2005, http://sbpm.web-com-service.de/?Literatur:Psychotraumatologie)

  • Es müsste doch eigentlich jedem einleuchten, dass es ein Unterschied ist, ob man EINMAL ALS ERWACHSENER Opfer einer Gewalttat geworden ist (obwohl ich die Folgen auch hier nicht schmälern möchte!), oder ob man als KIND (!!) SERIELL (!!), also WIEDERHOLT sexuelle Gewalttaten erlebt. Noch dazu - im Gegensatz zu „normalen“ Gewalterlebnissen als Erwachsene/r - ohne anschließend erfahrene Unterstützung, weil im Falle des sexuellen Kindesmissbrauchs nicht selten die Täter unangreifbar und die Taten vom Umfeld massiv verleugnet werden. Das heißt nicht nur, dass das kindliche Opfer weniger Ressourcen hat, mit solchen Erlebnissen umzugehen, es hat darüberhinaus im weiteren Verlauf auch weniger Möglichkeiten der Entlastung. Am schwersten jedoch wiegt bei kindlichen Opfern, dass sich diese schweren Gewalterlebnisse sich mit seiner weiteren psychischen und physischen Entwicklung „verweben“, d.h. Teil der eigenen Persönlichkeit werden. Dirk Bange: „Es gibt so vieles, das durch einen sexuellen Missbrauch verloren gehen kann: die Vorstellung einer gerechten Welt, das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in sich selbst und andere, der Verlust einer positiven Beziehung zum eigenen Körper, der Verlust eines intakten Elternbildes oder familiärer Sicherheit.“ Regina Steil: „Bei Kindern und Jugendlichen verändert die Traumatisierung bedeutsame Schemata, welche sich in dieser Lebensspanne erst herausbilden und das Selbstkonzept bestimmen, in besonders maligner Weise.“ Perfide ist, dass diese (und andere) Traumafolgen den erwachsenen Betroffenen von angeblichen „Experten“ (Psychiater, Psychologen, usw.) dann zum (angeblich) „angeborenen“ Persönlichkeitsanteil gemacht und somit auch nicht als Schädigung/Traumafolge erkannt werden.

  • Eins noch: Das OEG-Verfahren hat zum einen festzustellen, ob entsprechende unter das Gesetz fallende Gewalttaten erlitten wurden, und dann, ob daraus gesundheitliche Schädigungen resultieren, die einen Anspruch auf OEG-Rente begründen. Aufgrund der bereits dargestellten strukturellen Probleme innerhalb des OEG (u.a. fehlende Abbildung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse der Traumafolgenforschung- speziell zu sexuellem Kindesmissbrauch) erfolgt die Festlegung des „Grades der Schädigung“ äußerst willkürlich. Gerade für Betroffene von sexueller Gewalt während der Kindheit wird damit erneut ein Zustand getriggert, den sie bereits als Kind erfahren haben. Schon damals waren sie der Macht und Willkür der/des Täter/s ausgeliefert – nun sind sie es im OEG-Verfahren der Macht und Willkür der Sachbearbeiter und Gutachter. Zudem erzeugt selbstverständlich eine BEWUSST (!) auf dem Stand von 2008 eingefrorene Verordnung zur Beurteilung von Traumafolgeschäden Fehl- bzw. Minderdiagnosen. Auch so kann der „Grad der Schädigung“ seitens der Versorgungsämter niedrig gehalten werden. Mit den tatsächlichen Schädigungen und Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen hat der so „festgestellte“ „Grad der Schädigung“ allerdings eher wenig zu tun.

  • Danke übrigens an die taz und Frau Oestreich, dass sie das Thema aufgegriffen haben. Wir Betroffene brauchen die Unterstützung der Öffentlichkeit gerade diesbezüglich ganz dringend!!

  • Diese und weitere „Baustellen“ im OEG sind längst bekannt. Stellt sich also die Frage, warum diesbezüglich vonseiten des Gesetzgebers noch immer nicht gehandelt wurde. Ich behaupte: Weil es Geld kostet. Und zwar das Geld der Länder, und die – das beschreibt auch der Artikel - haben sich schon geweigert, ihren (zugesagten!) Anteil am Hilfsfonds zu leisten. Seit nunmehr (mindestens) fünf Jahren herrscht diesbezüglich Stillstand. Fünf Jahre, in denen gleichzeitig nicht wenige Betroffene durch den Reißwolf des OEG-Verfahrens gegangen sind, um am Ende oft beschädigter und retraumatisiert zurück zu bleiben (http://netzwerkb.org/2009/10/18/opferentschadigungsgesetz-oeg/#comment-423735, http://netzwerkb.org/2012/05/25/suche-erfahrungsaustausch-oeg/).

  • (3) : Laut der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zu den „Gesundheitliche[n] Folgen von Gewalt unter besonderer Berücksichtigung von häuslicher Gewalt gegen Frauen“ des Robert Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2008 (!!)(Hervorhebungen durch mich): „Aufgrund der hohen quantitativen und qualitativen Bedeutung unterschiedlicher Gewaltformen für die Gesundheit von Frauen, Männern und Kindern, sind differenzierte Kenntnisse über Zusammenhange zwischen Gewaltbetroffenheit und potenziellen Gesundheitsfolgen unverzichtbarer Bestandteil für die in der Gesundheitsversorgung tätigen Berufsgruppen. VORLIEGENDE ANALYSEN VERWEISEN HIER AUF EINEN BISLANG UNZUREICHENDEN KENNTNISSTAND IM GESAMTEN SYSTEM DER MEDIZINISCHEN VERSORGUNG , der infolge des Nichterkennens von Gewalt als Ursache gesundheitlicher Probleme zur Über-, Unter- und Fehlversorgung beitragen kann.“ (…) „Als größtes Hindernis werden von den im Gesundheitswesen arbeitenden Professionen die UNZUREICHENDE QUALIFIKATION IM ERKENNEN VON GEWALTFOLGEN und im adäquaten Umgang mit der Problematik identifiziert. Die Mehrzahl der praktizierenden Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte fühlt sich nicht ausreichend vorbereitet und kompetent, die Folgen körperlicher, sexualisierter und häuslicher Gewalt zu diagnostizieren.“ (Quelle: Robert Koch-Institut, Berlin 2008, Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 42, „Gesundheitliche Folgen von Gewalt unter besonderer Berücksichtigung von häuslicher Gewalt gegen Frauen“, S. 8 u. 28, http://edoc.rki.de/documents/rki_fv/ren4T3cctjHcA/PDF/26Herxag1MT4M_27.pdf) (siehe Fortsetzung)

  • (1) Eine Studie zum OEG hat bereits im Jahr 2010 aufgezeigt, dass die Regelungen des OEG „faktisch nicht alle Gewaltformen gleichermaßen erfass[en]. Strukturell scheint eine Benachteiligung in den Entschädigungschancen der Opfer häuslicher Gewalt vorzuliegen und damit indirekt eine Benachteiligung von Frauen, vermutlich auch von Kindern und älteren Menschen.“ (Quelle: Studie zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) und der Verfahrenspraxis in der Opferentschädigung, Hochschule Fulda, September 2010, http://www.fh-fulda.de/fileadmin/Fachbereich_PG/PDF/Forschungsprojekte/InterpersGewalt/Endbericht_OEG_Studie.pdf)

    (2) Die Fachanwältin für Sozial- und Familienrecht, Dr. Gudrun Doering-Striening, hat 2011 eine Expertise zur „Opferentschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG)“ erstellt. Darin heißt es u.a. (Hervorhebungen durch mich): „Die jetzt geltende Versorgungsmedizin-VO hat die Kapitel 1 – 15 der Anhaltspunkte 2008 mit den dort niedergelegten Grundsätzen für Gutachten im sozialen Entschädigungsrecht NICHT übernommen.“ Und weiter: „Vor allem der Abschnitt 53 – 143 zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern ist in der Neuregelung nicht aufgenommen worden. Bei der Bearbeitung von Opferentschädigungsfällen hat diese Änderung eine bisher noch nicht vollständig absehbare Bedeutung, denn damit FEHLT JETZT DIE FÜR DIE BEARBEITUNG VON OEG-FÄLLEN WICHTIGE Ziff. 71, die zukünftig auch vom Sachverständigenbeirat NICHT MEHR AKTUALISIERT wird.“ (Quelle: Dr. Gudrun Doering-Striening, http://beauftragter-missbrauch.de/file.php/113/Opferentschaedigungsrecht_und_besondere_Probleme_in_Faellen_sexuellen_Missbrauchs_22_07_11.pdf, S. 18).

    (siehe Fortsetzung)

  • 70 Jahre nach Auschwitz gibt sich Deutschland zerknirscht ob des skandalösen Umgangs mit Entschädigungsfragen von KZ-Opfern. Tatsächlich aber hat sich am Umgang mit Opfern – hier konkret Betroffene von sexueller Gewalt während der Kindheit - bis heute nichts Wesentliches geändert. Noch immer scheint das Hauptinteresse der für die Umsetzung des OEG zuständigen Länder, Behörden und Gutachter darin zu bestehen, möglichst viele dem Grunde nach Anspruchsberechtigte von den Geldtöpfen fernzuhalten. Das gelingt u.a. deshalb so gut, weil in den Regelungen des OEG erstens (1) Taten wie fortgesetzter Missbrauch in der Kindheit praktisch nicht abgebildet sind (schon das Antragsformular sieht z.B. nur EINE GEWALTTAT vor!), (2) zweitens nach veralteten Grundsätzen entschieden wird und dies (3) drittens von Gutachtern, denen es an entsprechender Qualifikation, die Folgen körperlicher, sexualisierter und häuslicher Gewalt sicher zu diagnostizieren, mangelt. Von dem Unding, die komplexen Folgen sexualisierter Gewalt während der Kindheit innerhalb einer einzigen Begutachtung und vor dem Hintergrund, dass sich viele Symptome „verschleiern“, überhaupt qualifiziert zu beurteilen, ganz abgesehen. (siehe Fortsetzung)

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Was hier über (nicht stattfindende) Hilfe für sexuelle Missbrauchsopfer zutrifft, gilt in gleichem Masse für all jene zigtausende Leidtragenden der sogenannten Fürsorgeerziehung in deutschen Heimen der 1950er und 1960er Jahre.

     

    Nach der Einrichtung des Runden Tisches Heimerziehung war ich so blauäugig und naiv, an eine Entschädigung von Staats und Kirchen wegen zu glauben. Der Runde Tisch unter der Ägide der Pfarrerstochter Vollmer (Die Grünen) hat mich und andere Betroffene eines Schlechteren belehrt. Mit Einrichtung des Fonds Heimerziehung wurde vor allem dies geschafft: die Insassen einer vergleichbaren Unkultur des Hosenrunter-Lassens zu unterziehen wie Vergewaltigte. Und zwar nicht für neu eingerichtete Hilfen, sondern für Psychotherapien, die bereits im Leistungskatalog jeder Krankenkasse enthalten sind.

     

    Deutschland und die deutschen Deutschen sind gründlich und effizient. Von Auschwitz, Bergen-Belsen und Dachau bis hin zu den vielen Heimen, in denen Kindern und Jugendlichen der Nachkriegszeit jede Form der INDIVIDUALITÄT ausgetrieben wurde. Leider hört diese Gründlichkeit bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung zugefügten Leids auf. Ein Land wie Irland (nicht gerade als eines der reichsten Länder der Welt verschrien) tut sich da erstaunlich leichter.