Hilfe für Kriegsopfer in Gaza: Hotline gegen das Trauma
Palästinensische Psychologen im Westjordanland helfen Menschen im Gazastreifen seit der Bodenoffensive mit einer Hotline. Bis zu 1.000 Anrufe gehen täglich ein.
![](https://taz.de/picture/364560/14/Gazakinder.jpg)
RAMALLAH taz Ohaila Shomar kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Seit sie zusammen mit ihrem Kollegen Jalal Khader die Leitungen ihrer Hotline 24 Stunden täglich bereithält, um Menschen aus dem Gazastreifen psychologisch zu betreuen, haben die beiden keine Nacht mehr zu Hause verbracht. Das war am 9. Januar, wenige Tage nach Beginn der israelischen Bodenoffensive.
"Ein Junge hat mich gefragt, wie er die Prüfungen schaffen soll, weil doch die Schulen geschlossen sind", berichtet Jalal. Erst nachdem er immer wieder nachgefragt hat, sei es "plötzlich aus ihm herausgesprudelt". Der Junge hatte gesehen, wie ein Mann von einer Bombe zerfetzt wurde. "Manchmal greifen die Menschen, die einen Freund sterben sehen, in ihrer ersten Panik nach einem der abgerissenen Gliedmaßen und rennen damit los." Bei einer solchen Erfahrung sei schnelle seelische Hilfe ganz wichtig, meint Jalal. "Sie müssen reden, reden, reden."
Rund um die Uhr hört Ohaila den Berichten der Menschen aus dem Krisengebiet zu. An manchen Tagen kämen bis zu tausend Anrufe an die Hotline in Ramallah und eine zweite in Ost-Jerusalem. Gegen Mitternacht setzen sich die Berater für eine halbe Stunde zusammen, um die schwersten Fälle zu besprechen. Jeder einzelne Anruf wird notiert. "Ich fühle physisch eine schwere Last auf den Schultern", sagt die Psychologin, die in Israel studiert hat.
Manchmal bitten Eltern um konkreten Rat für ihre Kinder, die nachts ins Bett machen oder plötzlich aggressiv werden. "Oft schimpfen sie ihre Kinder aus", meint Ohaila. Das sei genau die falsche Reaktion. Die Seelsorger halten die Eltern an, ihre Kinder nicht allein zu lassen und sie in die Arme zu nehmen.
"One t(w)o one", das ist der Name des Zentrums und gleichzeitig die auch für Kinder leicht zu merkende Nummer, um die Hotline kostenfrei zu erreichen. Jalal erinnert sich an einen siebenjährigen Jungen, der mit drei kleineren Geschwistern über Nacht allein zu Hause war. Der Junge telefonierte im 30-Minuten-Takt mit der Hotline, bis seine Eltern wieder zurückkamen. Sie waren in Gefechte geraten, als sie Nahrungsmittel und Wasser besorgen wollten, und konnten nicht früher in ihre Wohnung zurück.
Die Hotline in Ramallah konzentrierte sich in den vergangenen Jahren auf die Beratung von Kindern. Ganze drei Stellen werden über Spenden aus Europa finanziert. Jalal ist froh, dass er nicht länger auf Plastikstühlen sitzen muss, seit er bei einer Auktion billig drei Sessel erstehen konnte. Der Anwalt hat sich von Ohaila in einem 85-stündigen Schnellkurs ausbilden lassen, gefolgt von mehreren Stunden Praxis unter Aufsicht. Zehn weitere angelernte Mitarbeiter sitzen ehrenamtlich am Telefon. "Unser Geld reicht noch nicht einmal, um ihnen die Fahrtkosten zu erstatten", sagt Ohaila, die nicht einmal davon träumt, dass jemand für ihre und Jamals endlose Überstunden aufkommen wird.
Wichtige Hilfe erhält die Hotline von den lokalen Telefongesellschaften, die die Leitungen kostenlos zur Verfügung stellen, und von den palästinensischen Rundfunkstationen, die die die Telefonnummern bekannt geben. "Das Fernsehen lässt unsere Verbindungen als Schleife während der Nachrichten laufen", berichtet Jalal.
Viele Probleme, über die die Anrufer klagen, wiederholen sich: Schlaflosigkeit, Bauchschmerzen, Übelkeit und buchstäblich lähmende Angst, vor allem während der nächtlichen Bombardierungen. "Am allerschlimmsten für die Kinder sind die Drohnen, die ununterbrochen über ihren Köpfen brummen", sagt Jalal. Die jungen Palästinenser seien inzwischen Experten für die verschiedenen Kampfflugzeuge und wissen schon "anhand der Motorengeräusche, um welches es sich handelt, und was es macht".
Sichtbar frustriert äußern sich beide über die internationalen Hilfsorganisationen im Gazastreifen. "Wir hatten Anrufer, die ihr Haus verloren hatten und nicht wussten, wo sie mit ihren Kindern Unterschlupf finden sollten", erzählt der Mittvierziger Jalal kopfschüttelnd. "Wir haben die Listen hoch und runter telefoniert, ohne jedes Ergebnis."
Seit Kriegsende fragen immer mehr Anrufer nach Rat im Umgang mit Blindgängern. "Wir mussten uns erst einmal selbst informieren", sagt Jalal, der auf eine schnelle Entsendung von Expertenteams hofft. Sobald sie können, wollen Jalal und Ohaila auch nach Gaza. "Wir können viel besser helfen, wenn wir direkt bei den Menschen sind." Die Psychologen, die selbst in Gaza leben, können, so glaubt Ohaila, vorläufig nicht eingesetzt werden. "Die sind selbst so traumatisiert, dass sie eine eigene Therapie brauchen, bevor sie ihre Arbeit wieder aufnehmen."
SUSANNE KNAUL
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