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Hilfe beim ersten Mal

Schon die große Schwester hat sie gelesen, da kann sie ja so uninteressant nicht sein: die „Bravo“. Jede Menge Pickel, Stars, Sex. Also jede Menge Themen, durch deren umsichtige Aufarbeitung die Frauen von morgen sozialisiert werden. Ein Einblick in die Erziehungsanstalt der deutschen Jugend unter besonderer Berücksichtigung des weiblichen Geschlechts  ■ Von Jenni Zylka

Da liegt sie, die Zeitung, neben Konkurrentinnen wie popcorn und 16, etwas entfernt von Allegra und Young Miss, aber nahe bei den verlagsinternen Geschwistern Bravo Girl und Bravo Sport. Vorne drauf wie immer ein Star, oft noch in den Zehnern, um die Nase etwas glänzend, denn das heißt Pubertät und ist außerdem modern.

Gelesen wird die Stargazette von wöchentlich etwa einer Million Teenies (Tendenz fallend) zwischen elf und neunzehn, größtenteils Mädchen, und alle drei Jahre wachsen neue nach und springen alte ab.

Und wofür interessiert sich so eine heranwachsende Frau, mit siebzehnprozentiger Sicherheit ein Scheidungskind, mit 25prozentiger Sicherheit necking- und pettingerfahren wenn sie unter vierzehn ist, und oft mit fünfzehneinhalb bereits entjungfert?

Laut Bravo für Stars, Stars, Stars! Das Ausrufezeichen hinter der Meldung (Gil und Scott packen aus! Blümchen spricht über ihr erstes Mal!) ist obligatorisch. Und für Sex und Liebe, Liebe und Sex.

„Als erstes lesen wir immer die Aufklärungsseiten“, erzählen Nura und Jule, beide fünfzehn, seit vier Jahren unregelmäßige Bravo-Leserinnen. „Aber mehr, weil wir uns darüber kaputtlachen, was die Leute immer fürn Quatsch wissen wollen!“

Sie selbst habe noch nie etwas aus den schlauen Ratschlägen (nein, dein Penis/Busen ist nicht zu klein, oder, nein, Selbstbefriedigung macht nicht blind) gezogen, behauptet Nura, denn „ich wußte auch vorher schon Bescheid, von zu Hause her, bei uns war das eben nie ein Tabu“. Sie findet es unglaublich, daß immer noch „Mädchen mit fünfzehn oder sechzehn nicht wissen, was das ist, wenn sie das erste Mal ihre Tage kriegen“ und glaubt nicht so richtig, das diese Art Leserfragen echt sind.

„Ich finde die Probleme, die da im Dr. Sommer-Team behandelt werden, etwas komisch“, sagt Jule, und sie hat ebenfalls angeblich noch nie etwas aus dem Aufklärungsservice gelernt. „In unserer Klasse sind die Mädchen, die regelmäßig Bravo lesen, eher schüchtern, brav und zurückhaltend“, erklären beide. Und Nura meint: „Das sind Mädchen, die sich irgendeinen Stil aufsetzen lassen, der gar nicht zu ihnen paßt. Wie bei diesen Vorher-Nachher-Stylingtips, da kriegen angepaßte Leute irgendwelche verrückten Frisuren verpaßt, aber eigentlich ist das nicht ihr eigener Stil, sondern der von den Bravo-Machern.“

Komisch, dabei wimmeln die Fotolovestories, die „Mein erstes Mal“-Erlebnisgeschichten und Starporträts von selbstbewußten, mutigen und frechen Mädchen – eben jenen Neunzigergirlies, die für Tampons und Handys Werbung machen.

Diplompsychologin Margit Tetz jedenfalls, spätestens seit „Dr. Sommer goes Bravo-TV“ bekannt wie ein bunter Hund, glaubt an die starken und aufgeklärten Mädchen von heute, die den Jungen sagen, was sie möchten und was nicht, und die nicht mehr in Rollenklischees festhängen wie noch vor zwanzig Jahren.

„Nach einer Untersuchung Ende der sechziger Jahre haben noch neunzig Prozent der Mädchen gesagt, sie hätten nur auf Wunsch des Jungen das erste Mal mit ihm geschlafen“, sagt Frau Tetz, „und heute sind es nur noch sechs Prozent.“ Das heißt, daß die Mädchen „viel kritischer und selbstbewußter mit ihrer Sexualität umgehen“.

Also doch Schluß mit dem tradierten Muff von tausend Jahren? „Die Werte, die von uns vermittelt werden, sind sehr humanistisch“, sagt Frau Tetz, „und lassen ein breites Spektrum zu: in den anderen einfühlen, gucken, wo die Grenzen sind, ausprobieren“. Die Probleme, die in den hilfesuchenden oder nur neugierigen Briefen angesprochen werden, gehen von „Kann ich beim Küssen was falsch machen?“ bis „Wo kann ich mich intimpiercen lassen?“

Ein großer Teil der Themen, so glauben sowohl die Leserinnen Nura und Jule als auch Briefebeantworterin Tetz, sind allerdings zeitgeistgesteuert: Wenn in einer der nachmittäglichen Talkshows mal wieder ein besonders blödes Sexthema auf dem Programm steht (“ich kann nur mit zwei Frauen“), spiegelt sich das durchaus in den Briefen der nächsten Wochen wieder, weiß Frau Tetz, und Nura und Jule bestätigen: „Da redet man schon drüber, aber das macht doch keiner in Wirklichkeit.“ Auch typische Neunzigerjahrephänomene wie die Verschuldung von Teenies, die sich mit ihren Handy- oder Pagerkosten, den zum Hipsein nötigen Markenklamotten und ihren leider nur fünfzig Mark Taschengeld pro Woche verrechnet haben, werden aufgenommen.

Wenn man sich die übrigen Seiten und Themen der Bravo anguckt (Pop und Stars, Mode, Schicksalsberichte, selten Umwelt- oder Tierschutzgeschichten), dann kann man allerdings nicht mehr an das moderne, individuelle Leserinnenprofil glauben: Zu ähnlich sehen sich die Protagonistinnen der Stories und der Modeseiten, zu austauschbar sind die hausgemachten Stars und Sternchen.

Einerseits soll das Selbstbewußtsein der Mädchen gestärkt werden, sollen alle Facetten zugelassen und jede auf ihre Weise akzeptiert werden, andererseits posieren auf den Hochglanzseiten massenweise Fließbandhungerharken in Push-up, Plateauschuhen und mit Perlweißlächeln.

Beißt sich da die Katze nicht in den Schwanz? „Zum Teil schon“, gibt Margit Tetz zu, „das sind natürlich Models im Heft, das entspricht nicht immer dem Alltagsbild von Jugendlichen, das man draußen auf der Straße antrifft“, aber zumindest bei der Beschreibung des „ersten Mals“ sei man sehr kritisch und realistisch: „Da schreiben dann sogar oft Mädchen und sagen: bei mir war's aber ganz toll.“

Diese Grätsche zwischen quotenbringenden, traumhaft schönen Menschen und den traurigen Geschichten und Gestalten, die die Realität bietet, schafft die Bravo, wie die meisten anderen Magazine, auch nur durch permanentes Sich-in-die-Tasche-Lügen: Auf die vielen unsicheren LeserInnenfragen, die Aussehen, Busenform, Gewicht etc. betreffen, wird immer wieder beteuert, daß Äußerlichkeiten keine große Rolle spielen. Was das Heft an Bildern serviert, spricht aber eine deutlich andere Sprache.

Noch sichtbarer wird diese Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Illustriertenwelt in der Bravo Girl, der „reinen“ Mädchenzeitung des Heinrich Bauer Verlags, die seit elf Jahren versucht, sich die Leserinnen mit gesteigertem Interesse für Mode und Kosmetik (rund 850.000 Auflage) an Land zu ziehen.

Thema Nummer eins des mit drei Mark dreißig etwas teureren Teenieblattes: Jungen und wie man sie kriegt, also die wichtigsten Gebote beim Männerfang: Gutes Aussehen, Unterwürfigkeit und Intriganz. Unter der Überschrift „Ran an die Jungs!“ bietet die Zeitung fünfzig Flirttips an: „Erzähle ihm, daß er durchtrainiert aussieht“, oder „Bringe ihn auf einer Party mit anderen Mädchen ins Gespräch. Zieh ihn dann zur Seite und sage ihm, welche Macken die Girls haben. Nur Mut, sei ruhig ein kleines Luder!“

Die Bravo Girl-Leserinnen sollen sich weiterhin über Mode und Trends, massenhaft Schminktips und „Romantik zum Träumen“ identifizieren. Unter der Rubrikzeile „Reportagen“ finden sich zwei Partnerthemen und „Drogen“. Also Image is every-thing, Inhalt is nothing?

Martina Landtau vom Bravo Girl-Leserinnenservice ist davon überzeugt, daß das Aussehen für Frauen sehr wichtig ist, denn „man ist ja im permanenten Konkurrenzkampf“ und hat in Bezug auf Mode „immer einen bestimmten Wert zu erfüllen“. Und um diesen Wert ausfüllen zu können, um den vorgegebenen Traumkörper zu erreichen, gibt die Bravo Girl ihren minderjährigen Leserinnen schon mal den Tip, den unschönen „Reiterhosenspeck“ an den Beinen chirurgisch entfernen zu lassen – „die Leserin hatte wirklich alles ausprobiert an Diäten und so weiter, und wir haben natürlich auch vor den Gefahren gewarnt“, rechtfertigt sich Landtau.

So zieht sich die Schönheits- und Frauenzeitungsindustrie gleich ihre späteren Konsumentinnen zurecht – sind das nicht eigentlich die gleichen Frauen, über die es in einer oft belächelten Fünfzigerjahrewerbung heißt: „Eine Frau fragt sich zwei Dinge am Tag: Was koche ich, was ziehe ich an?“

Fragt man die potentiellen Käuferinnen und Teenager, kommen unterschiedliche Antworten. Nura und Jule sind in Sachen Bravo Girl-Themen eher desinteressiert: „Ich brauche überhaupt keinen, der mir sagt, wie ich mich schminken soll, ich mache das sowieso, wie ich will“, sagt Nura tapfer. Die Welt der Show- und Popstars finden sie in allen Teeniezeitungen uninteressant, denn „das sind keine echten Stars, diese Bands werden doch von irgendwelchen Produzenten zusammengestellt“.

Glaubt man den Bravo- und Bravo Girl-MacherInnen, dann gestaltet sich die Auswahl der „Lieblingsstars“ allerdings streng nach den LeserInnenwünschen: Wöchentlich verschickt das Bravo-Team 4.000 Karten an seine LeserInnen, auf denen nach aktuellen Favoriten gefragt wird. Und daß manchmal Bands, die jahrelang Top waren, plötzlich komplett vom Erdboden verschwinden, das haben dann wohl auch die LeserInnen zu verantworten.

Laut Dr.-Sommer-Team-Expertin Tetz gibt es keine typische Bravo-Leserin. Aber sie alle verbindet das Interesse an den von der Musik-, Film- und Modeindustrie ausgewählten Vorgaben.

Vielleicht macht das in Wahrheit die Bravo-girls aus: Hunderttausende Individualistinnen mit demselben Geschmack.

Jenni Zylka, 30, freie Autorin aus Berlin, schreibt regelmäßig für taz über Kulturthemen

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